01.12.2023
Der Fachkräftemangel ist eines der größten Probleme des Landes. Schon heute können Ingenieurbüros und öffentliche Arbeitgeber längst nicht alle Stellen besetzen. Für das 1. Quartal 2023 verzeichnet der VDI-/IW-Ingenieurmonitor 7.500 offene Stellen allein in Nordrhein-Westfalen, im gesamten Bundesgebiet sind es sogar 44.280 Stellen. Das ist nur die Spitze des Eisbergs: Erreichen die Babyboomer in den nächsten Jahren das Rentenalter, wird sich der Fachkräftemangel erheblich verschärfen: Ohne die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte und die zielgerichtete Förderung von Bürgerinnen und Bürgern mit internationaler Familiengeschichte wird es nicht gehen.
Die Ingenieurkammer-Bau NRW befasst sich mit diesem Problem seit längerer Zeit vor und hinter den Kulissen, etwa in Interviews , in Hintergrundgesprächen und in einer Erweiterung des Fortbildungsprogramms der Ingenieurakademie-West, von der noch die Rede sein wird. Am 8. November war die Problematik unter dem Titel „Fachkräftemangel - Integration und Migration“ Thema einer Online-Podiumsdiskussion der ChallengING-Reihe, die sich den gesellschaftlichen Herausforderungen des Berufsstandes widmet. Unter der engagierten Moderation von Ralph Erdenberger teilten zunächst Ahmad Alomar/HOCHTIEF Infrastructure GmbH und João Lobão/Fischer Teamplan Ingenieurbüro GmbH aus ganz unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte ihres Weges in den deutschen Arbeitsmarkt. Nicole de Witt vom Landesbetrieb Straßenbau NRW ergänzte die Berichte mit ihren Erfahrungen aus der Perspektive der Arbeitgeberin und Caner Aver von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, gelang es schließlich immer wieder, den subjektiven Erfahrungsberichten eine wissenschaftlich fundierte Perspektive zu verleihen.
Erfolgsschichten und strukturelle Probleme
Beeindruckend und sicher auch vorbildhaft in Sachen Einsatzwille und Zielstrebigkeit ist die Geschichte von Ahmad Alomar, der es in weniger als zehn Jahren vom Bürgerkriegsflüchtling ohne sprachliche Vorkenntnisse zum Bauleiter und BIM-Koordinator bei HOCHTIEF Infrastructure gebracht hat. Die Flucht vor dem Krieg oder, wie Ahmad Alomar eindrücklich formulierte, die Entscheidung Täter werden zu müssen oder Mensch sein zu dürfen, führte ihn zunächst nach Zypern. Dort setzte er das im Heimatland begonnene Studium des Bauingenieurwesens fort. In Deutschland folgte ein Masterstudium in Bochum – wegen der noch fehlenden Fremdsprachenkenntnisse auf Englisch. Über eine Stelle als Werkstudent gelang es Ahmad Alomar schließlich im Selbststudium Defizite in der deutschen Fachsprache aufzuholen und sich für eine Stelle bei Hochtief zu qualifizieren. Seit einiger Zeit betreibt er neben seiner Vollzeitstelle als Bauleiter und BIM-Koordinator an der Fernuni-Hagen ein Informatikstudium, das einerseits der Weiterbildung, dazu aber auch der Verfestigung der deutschen Sprache diene.
Die Geschichte von João Lobão, der heute als Tragwerksplaner bei Fischer Teamplan in Köln arbeitet, steht im Kontext der Weltfinanz- und Bankenkrise. Ab 2008 gab es für einen Bauingenieur in Portugal praktisch keine Beschäftigung mehr. João Lobãos Weg führte zunächst nach Brasilien, später zurück nach Europa. Dort arbeitete er unter anderem in Frankreich, in den Niederlanden und in Norwegen. Der Grund für den Wechsel nach Deutschland war privater Natur. Seine Lebensgefährtin fand hier eine berufliche Zukunft, die sich andernorts nicht bot. Deshalb lebt und arbeitet João Lobão heute mit seiner Familie in Köln.
Deutsch als Schlüssel zur Integration
Zunächst hörten die Teilnehmer an den Bildschirmen zwei gelungene Migrations- und Integrationsgeschichten in den deutschen Arbeitsmarkt. Doch bei genauerem Hinsehen offenbarte sich schnell: Das Gelingen war einem überdurchschnittlichen persönlichen Einsatz und auch glücklichen Umständen geschuldet. Die strukturellen Bedingungen begünstigen eine erfolgreiche Migration und Integration in den deutschen Arbeitsmarkt keineswegs. Als Knackpunkt identifizierte Moderator Ralph Erdenberger zu Recht den Spracherwerb. Ohne deutsch ist in diesem Land kein Staat zu machen. Was banal klingt, ist es mit Blick auf die europäischen Nachbarländer keineswegs. Die Erfahrung von João Lobão zeigt: in Belgien, den Niederlanden oder Norwegen kommt man mit gutem Englisch zurecht. Das gilt für den Beruf ebenso wie das Privatleben. Besonders schwierig wird die Integration, wenn die neuen Kolleginnen und Kollegen noch kein Deutsch sprechen und die alten kein Englisch. Fakt ist, für eine Ingenieurin oder einen Ingenieur im Bauwesen führt hierzulande kein Weg daran vorbei, die deutsche Sprache zu erlernen, und zwar besser als es die formal erforderlichen Zertifikate verlangen. Dies bestätigte auch Nicole de Witt, die bei Straßen NRW viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte beschäftigt und immer wieder beobachtet, dass die fachlichen Voraussetzungen für eine Beschäftigung passen, die sprachlichen jedoch nicht. Trotz des formalen Nachweises der erforderlichen Sprachzertifikate.
Praxisnahes Angebot für den Spracherwerb
Das heißt, im Sinne des Reihentitels der Diskussionsrunde liegt die große Challenge im Erwerb der deutschen Sprache. Doch wie sich in der Diskussion herausstelle, fehlt zu dieser Herausforderung bislang die gesellschaftliche Antwort. Ein Angebot an Sprachkursen, die technisches Deutsch lehren und für den Arbeitsalltag in deutschen Ingenieurbüros qualifizieren, sind praktisch nicht vorhanden. Dieses Ergebnis der Diskussionsrunde antizipierend hat die Ingenieurakademie-West, das Fortbildungswerk der IK-Bau NRW, aktuell bereits reagiert: Der Kurs richtet den Fokus auf ausgewählte Situationen des beruflichen Alltags von Ingenieurinnen und Ingenieuren. Gemeinsam mit qualifizierten Lehrkräften legen die Kursteilnehmer die kommunikativen Situationen fest, die im beruflichen Kontext trainiert werden sollen. Das können beispielsweise Berichte in Teammeetings auf Deutsch, das Verstehen von Baugutachten oder das Formulieren von Anfragen bei der Baubehörde sein. Ein wichtiger Baustein ist auch das Thema interkulturelle Sensibilisierung. Hierzulande kann man dies mit der Frage dechiffrieren „Wer tickt hier wie und warum so laut?“. Weitere Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es auf der Website der Akademie unter: https://ingenieurakademie-west.de/akademie/seminare/info.php?nr=66539
Gleichwohl hat die Akademie perspektivisch auch die andere Richtung des Spracherwerbs im Blick und das hat Gründe: Während sich João Lobão in seinem Büro in Köln in einem internationalen Umfeld bewegt, das seine Integration erleichtert hat, weil praktisch jeder Englisch spricht, kann dies bei kleineren Büros, zumal im ländlichen Umfeld, ganz anders aussehen. Gerade für diese Büros ist es aber enorm wichtig, im Wettbewerb um qualifizierte Kräfte nicht hinter die vermeintlich „Großen“ in den Metropolen zurückzufallen. Es hilft diesen Büros sicher dabei, Fachkräfte zu integrieren, wenn diese in der beruflichen Praxis über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, wie sie beispielsweise die Ingenieurakademie im oben vorgestellten Sprachkurs vermittelt. Aber diese Büros würden für Fachkräfte aus dem Ausland als Arbeitgeber sehr viel attraktiver, wenn die interne Kommunikation für eine Übergangszeit auch in Fachfragen auf das Englische ausweichen könnte. Entsprechend gibt es in der Akademie konkrete Überlegungen, in absehbarer Zeit an der beruflichen Praxis orientierte Englischkurse anzubieten. Doch grundsätzlich sei bei der Frage des Spracherwerbs die Politik und das gesamte Gemeinwesen gefragt, so Caner Aver. Unternehmen erhielten oft Bewerbungen von gerade neu zugewanderten Menschen ohne Sprachkenntnisse oder noch aus dem Ausland. Auch wenn die erforderliche Fachqualifikation vorliege, scheitere die Anstellung an den mangelnden Sprachkenntnissen. Gerade mittelständische Unternehmen seien überfordert, diese Sprachkenntnisse, ohne strukturelle Unterstützung zu vermitteln. Hier gebe es in Deutschland einen erheblichen Aufholbedarf. Privatwirtschaftlich könnten hier auch Agenturen ein Mittel sein, die Fachkräfte nach entsprechend bestimmter Anforderungsprofile im Ausland rekrutierten und die den Spracherwerb bis zu einem definierten Zertifikat im Ausland organisierten.
Berufliche Netzwerke und Integration
Neben der Sprache ist der fehlende Zugang zu beruflichen Netzwerken für Studierende und Arbeitssuchende mit Einwanderungsgeschichte eine sehr große Hürde für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Darauf weist Caner Aver hin. Nicht selten würden Praktika oder auch Stellen für Werkstudenten über Kontakte im erweiterten Bekanntenkreis vergeben. Wer über solche Kontakte nicht verfüge, habe kaum Aussicht auf eine solche Stelle und die anschließende Integration in den Arbeitsmarkt. Die Erfolgsgeschichte von Ahmad Alomar bestätigt indirekt diese These. Seine Stelle als Werkstudent eröffnete ihm erst die Möglichkeit zum Spracherwerb in Eigenregie, indem er sich tagsüber als Werksstudent jedes unbekannte deutsche Fachwort notierte und abends lernte. Auch sein Einstieg in das Berufsleben wäre ohne vorhergehende praktische Erfahrung so kaum möglich gewesen. Seine erste Stelle als Werksstudent verdankte er aber der Fürsprache einer engagierten Rechtsanwältin und Flüchtlingshelferin. Strukturell erscheint dieses Problem bislang ungelöst, gleichwohl will und kann die Kammer auch hier für Studierende eine Perspektive bieten. Das kostenlose Studierenden-Praxis-Programm der IK-Bau NRW unter dem Namen StartING bietet Einblicke in die Praxis bei vielen Baustellen-Exkursionen und hilft zugleich dabei, auf den vielen Veranstaltungen der Kammer etablierte Berufsträger kennenzulernen und sich ein berufliches Netzwerk aufzubauen. Mehr Informationen mit der Möglichkeit zur kostenlosen Anmeldung finden sich hier: https://ikbaunrw.de/kammer/studenten-info/meldungen/Starting.php
Anerkennung von Studienleistungen
Eine weitere Hürde, die es für einwandernde Fachkräfte zu überwinden gilt, ist die Anerkennung von Studienleistungen. Immerhin erscheinen die Hindernisse hier nicht unüberwindbar. Ahmad Alomar bestätigt, dass die Anerkennung seiner Studienleistungen vergleichsweise problemlos verlaufen sei, da sowohl seine Universität in Syrien als auch seine Hochschule auf Zypern hier anerkannt gewesen seien. Ein unlösbares Problem war die Anerkennung von Studienleistungen auch nicht für João Lobão. Doch als EU-Ausländer, der seine Zeugnisse in Portugal vorausschauend auf Englisch hatte ausstellen lassen, rechnete er doch mit weniger Problemen. In seinem Fall haben die Behörden sein englischsprachiges Zeugnis nicht akzeptiert, so als habe es den Bolognaprozess nie gegeben, auch wenn sich hier durch eine beglaubigte Übersetzung Abhilfe schaffen ließ.
Große Unterschiede in der Bewerbungskultur
Auch zeigte sich in der Diskussion, dass die Bewerbungskultur in Deutschland eine gänzlich andere ist als selbst in den europäischen Nachbarländern. Nicole de Witt berichtete, dass viele Bewerbungen von Menschen mit internationalem Hintergrund nicht den formalen Ansprüchen genügten, da oft Anschreiben, Zeugnisse und andere Nachweise fehlten. João Lobão bestätigte, dass es in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern üblich sei, sich nur mit einer formlosen E-Mail und einem Lebenslauf zu bewerben. Zeugnisse und Arbeitsnachweise nehme man mit in ein potenzielles Bewerbungsgespräch, würden dort aber nur partiell gewürdigt. Entscheidend sei, dass man die versprochenen Fähigkeiten in der Probezeit bestätige. Caner Aver kann sich vorstellen, dass private Ingenieurbüros hier leichter einen maßvollen Kulturwandel vollziehen können als öffentliche Arbeitgeber, indem sie sich dem praktischen Nachweis nicht formell belegbarer Kenntnisse öffnen. Zumal bei Bewerben, die aus Kriegs- oder anderen Krisengebieten geflohen sind.
Teambuilding in multikulturellen Arbeitsumfeldern
Konnte man eine qualifizierte Fachkraft mit internationalem Hintergrund gewinnen, sind längst nicht alle Probleme gelöst. Dann laute die entscheidende Frage, ob die betriebliche Integration funktioniert, so Caner Aver. Für jede neue Mitarbeiterin oder jeden neuen Mitarbeiter ist der Teambuildingprozess eine Herausforderung. Kommen sprachliche und kulturelle Hürden hinzu, müssten beide Seiten eine noch größere Integrationsleistung vollziehen. Hier sei es wichtig, dass es im Betrieb einen qualifizierten Ansprechpartner gebe, der Brücken baue und bei der Integration helfe. Nicole de Witt berichtet, gemeinsame Aktivitäten stärken den Teamgeist vor allem dann, wenn sie bei aller Gemeinsamkeit auch kulturelle Unterschiede respektierten. So gebe es bei Grillfesten inzwischen oft drei Stationen: Einen konventionellen, einen mit vegetarischen Produkten und einen Halal-Grill. Solch einfache Maßnahmen entfalten in der Summe eine große Wirkung. Die Akzeptanz von Unterschieden stärkt also die Gemeinschaft.
Letztendlich ist das Thema so vielschichtig, dass auch zwei Stunden Diskussion nicht ausreichen, alle wesentliche Punkte zu diskutieren. Ein herzlicher Dank geht an alle engagierten Zuschauerinnen und Zuschauer, die die Diskussion ungeheuer konstruktiv durch ihre Beiträge und Fragen im Chat oder direkt vor der Kamera bereichert haben. Für alle Interessierten steht die Aufzeichnung der gesamten Diskussion auf dieser Seite zum Nachschauen bereit. Für die IK-Bau NRW hat die Diskussionsrunde den eingeschlagenen Weg bestätigt und die volle Bedeutung des Themas für den Berufsstand und das Land untermauert. Zudem hat die Diskussion wichtige Erkenntnisse darüber gebracht, was Kammer und Akademie zur Bewältigung des Problems beitragen können. Mit dem Angebot von Sprachkursen ist ein erster wichtiger Schritt getan. Auf der Agenda der IK-Bau NRW stehen im nächsten Schritt ein Leitfaden zum Thema Migration und Integration qualifizierter Fachkräfte und Schaffung einer persönlichen Beratung innerhalb der Kammerstrukturen.