24.10.2023

„Es ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.“

Der Fachkräftemangel ist eines der größten Probleme des Landes. Nur wenn wir diese Aufgabe lösen, können wir andere Herausforderungen wie die Energie- und Mobilitätswende und die Instandsetzung unserer Infrastruktur angehen: Schon heute können Ingenieurbüros und öffentliche Arbeitgeber längst nicht alle Stellen besetzen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Erreichen die Babyboomer in den nächste Jahren das Rentenalter, wird sich der Fachkräftemangel noch erheblich verschärfen. Längst hat auch die Politik erkannt: Ohne die Migration qualifizierter Fachkräfte und die zielgerichtete Förderung von Bürgern mit Migrationshintergrund, wird es nicht gehen. Doch welchen Problemen begegnen Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund heute auf ihrem Bildungsweg? Wo scheitern sie und warum? Was können wir dagegen tun? Darüber haben wir mit Caner Aver gesprochen, der zu Hochschule und Migration in der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen forscht und publiziert.

Am 8. November um 17 Uhr findet die nächste Ausgabe unserer Online-Podiumsdiskussion ChallengING statt. Das Thema: Fachkräftemangel, Migration und Integration. Auf dem Podium mitdiskutieren wird u. a. Caner Aver. 

Mehr Informationen und die Möglichkeit zur kostenlosen Anmeldung finden Sie hier.

Caner Aver im Interview

IK-Bau NRW

Deutschland und das Bauingenieurwesen im Besonderen leiden unter einem erheblichen Fachkräftemangel. Was können Migration und Integration aus Ihrer Sicht zur Lösung des Problems beitragen?

Caner Aver

Migration und Integration sind ein enorm wichtiges, wenn nicht das einzige Mittel, mit dem Wirtschaft und Politik das Problem des Fachkräftemangels lösen können. Das Potenzial an Herkunftsdeutschen, also Deutschen ohne Migrationshintergrund in den letzten Generationen, ist mehr oder weniger ausgeschöpft. In dieser Gruppe ist die Bildungs-, die Abitur- und die Hochschulzugangsquote sehr hoch. Zugleich steigt der Anteil von Migranten an der deutschen Gesellschaft stetig und liegt heute bei gut einem Viertel der Bevölkerung. Jedoch weist diese Gruppe nach wie vor eine große Diskrepanz bei Bildungs- und Berufsabschlüssen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auf.


IK-Bau NRW

Wie zeigt sich diese Diskrepanz?

Caner Aver

In Nordrhein-Westfalen haben rund 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler an allen Schulformen einen Migrationshintergrund, an Haupt-, Real- und Gesamtschulen sind sie zum Teil deutlich über- und an Gymnasien dagegen unterrepräsentiert. Unter ihnen ist der Anteil an Abgängern ohne Hauptschulabschluss mehr als drei Mal höher als unter Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass dem deutschen Arbeitsmarkt Jahr für Jahr mehrere 10.000 Schülerinnen und Schüler kaum für qualifizierte Tätigkeiten zur Verfügung stehen. Die Politik in Kooperation mit anderen Institutionen muss noch mehr tun, um jene Jugendlichen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, weiter zu qualifizieren und vor allem, um diese Quote zu verringern. Deshalb müssten wir eigentlich Schule vor dem Hintergrund zunehmender sozialer und kultureller Heterogenisierung neu denken.


IK-Bau NRW

Wie ist die Situation an den Hochschulen? Gelingt der Schritt von der Schule an die Hochschule?

Caner Aver

Zunächst schlummert auch an den Hauptschulen Potenzial für spätere Studienkarrieren. Schullaufbahnen scheitern oft nicht wegen fehlender Begabung, sondern wegen sozialer und migrationsbedingter Hürden. Rund 20 Prozent der Studierenden in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Diese Gruppe ist gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung damit unterrepräsentiert. Es gibt also ein Potenzial unter den Migranten, was die Hochschulzugangsquote angeht. Doch auch ist hier die Abbrecherquote deutlich höher als bei Herkunftsdeutschen. Will man etwas gegen den Fachkräftemangel tun, muss man sich auf Bildungs- und Berufsintegration konzentrieren.


IK-Bau NRW

Sie haben von den spezifischen Hürden gesprochen, die Menschen mit Migrationshintergrund zu überwinden haben. Welche Gründe sind das?

Caner Aver

Laut Studien des Deutschen Zentrums für Hochschulforschung scheitern Studierende mit Migrationshintergrund vor allem, weil die fachlichen Voraussetzungen fehlen. Dazu muss man wissen: Viele Migranten aus der zweiten Generation, aber auch noch aus der dritten Generation, machen Abitur ohne großes kulturelles und soziales Kapital. Elterliche Bildungsunterstützung und breites Netzwerkwissen sind oft nicht im gleichen Maße wie bei Kindern aus Akademikerfamilien vorhanden. Entsprechend groß sind die Lücken, den Lernstoff an der Uni zu bewältigen. An zweiter Stelle nennen die Studien fehlende Motivation für und mangelnde Identifikation mit dem Studium und drittens wird das Studium als zu theoretisch wahrgenommen. Allerdings finden wir rund 50 Prozent der Abbrecher innerhalb eines Jahres auf dem Arbeitsmarkt wieder – oft in einer Ausbildung oder in einem dualen Studium. Das heißt, die Abbrecher gehen dem Arbeitsmarkt nicht verloren, oft aber der jeweiligen Branche.


IK-Bau NRW

Wie kann man Studierende mit Migrationshintergrund im Studium konkret unterstützen?

Caner Aver

Zunächst kommen zu den oben genannten Gründen noch andere hinzu. Da ist die finanzielle Situation vieler Familien mit Migrationshintergrund zu nennen, auch sind die familiären Umstände oft andere. Beispielsweise ist die Zahl der Eheschließungen – wenn auch auf niedrigem Niveau - während der Studienzeit bei Migranten höher als in der Mehrheitsgesellschaft. Mehr Engagement für das Familieneinkommen, erst recht, wenn Kinder hinzukommen, lässt weniger Zeit für das Studium. Wichtige Schritte wären, z.B. studienbegleitende Unterstützungsmaßnahmen zur Kompensation von Leistungsproblemen, Praktika und studentische Arbeitsstellen zu vermitteln und insgesamt den Praxisbezug des Studiums zu stärken. Vielleicht könnte auch eine Institution wie die Kammer in einer Kooperation mit einer Hochschule auf diesem Feld helfen.


IK-Bau NRW

Welche Angebote bieten denn bislang die Universitäten oder andere Institutionen?

Caner Aver

Strukturell und flächendeckend gibt es an den Universitäten kaum Angebote für Studierende mit Migrationshintergrund. Zwar ergreifen Universitäten eigeninitiativ und entlang der Sozialstruktur der Studierenden immer wieder gewisse Maßnahmen, meist sind diese Projekte aber nicht auf Dauer angelegt. Schwerpunktmäßig haben sich solche Projekte in den letzten Jahren auf Geflüchtete konzentriert, um deren Hochschulintegration zu fördern. Strukturelle Angebote an allen Hochschulen in NRW anzubieten, ist auch eine Kostenfrage, das ist klar. Hilfreich wäre eine Studie, die entsprechende Maßnahmen an den Unis in NRW systematisch erfasst und bewertet.


IK-Bau NRW

Wir haben bislang über die Probleme von Mitbürgern mit Migrationshintergrund gesprochen. Welche Probleme stellen sich bei der gezielten Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte?

Caner Aver

Deutschland muss aufholen, um mit klassischen und beliebten Einwanderungsländern wie Kanada und den USA konkurrieren zu können. Für Hochqualifizierte ist das englischsprachige Ausland oft die erste Option, hier gibt es keine Sprachbarriere. Um das zu kompensieren, muss Deutschland mehr bieten als englischsprachige Einwanderungsländer. Helfen könnten der Bürokratieabbau sowie verstärkte soziale Integrationsmaßnahmen für Partner und Kinder.


IK-Bau NRW

Auf welche Probleme stoßen bildungsausländische Studierende hierzulande? Wie kann es gelingen, nach erfolgreichem Abschluss mehr Studierende in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

Caner Aver

Je nach Quelle wollen 26 bis 70 Prozent dieser Gruppe nach dem Abschluss in Deutschland bleiben. Allein die Spanne der Zahlen zeigt: Wir wissen über diese Gruppe zu wenig. Entsprechende Studien könnten helfen, um die Gruppe bildungsausländischer Studierender besser auf einen Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt vorzubereiten. Derzeit ist es so, dass die Studierenden nach ihrem Abschluss für 18 Monate in Deutschland bleiben dürfen. Jedoch ist auch nach einem erfolgreichen Studium die Sprachbarriere oft nicht völlig überwunden. Und, was fast noch schwerer wiegt, dieser Gruppe fehlt zu oft der Zugang zu Unternehmensnetzwerken. Das bedeutet: Wer während des Studiums keinen Zugang zu Praktika oder Ähnlichem hatte, wird nach dem Abschluss nur schwer eine entsprechende Arbeitsstelle fi nden. Deshalb wäre z. B. die Vermittlung von Praktika für ausländische Studierende und damit der Zugang zu Branchen- und Unternehmensnetzwerken ungeheuer wichtig.


IK-Bau NRW

Aufgrund der weltweiten politischen Krisen suchen viele Geflüchtete in Deutschland Schutz. Viele von ihnen sind hochqualifiziert. Welche Herausforderungen stellen sich hier?

Caner Aver

Für Geflüchtete und deren Integration in den Arbeitsmarkt spielt vor allem die erleichterte Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse eine wichtige Rolle. Diese werden in Deutschland nicht immer gleichwertig anerkannt, oft müssen Nachqualifizierungen folgen; gerade bei Geflüchteten fehlen oft formale Voraussetzungen wie Zeugnisse. Es gibt hier Ansätze für Erleichterungen, doch könnten diese Bemühungen noch verstärkt werden.


IK-Bau NRW

Wie verlaufen die Karrieren von Menschen mit Migrationshintergrund? Wie können Arbeitgeber den Berufseinstieg durch integrative Maßnahmen erleichtern?

Caner Aver

Die demographische Entwicklung und der herrschende Fachkräftemangel haben das Problem offener Diskriminierung entschärft: Vor zehn bis 15 Jahren wäre es noch sehr unwahrscheinlich gewesen, dass eine Kopftuch tragende Frau von einem größeren Unternehmen angestellt wird. Dieses Problem hat sich nicht erledigt, aber abgeschwächt. Wir sehen eine positive Entwicklung auch vor dem Hintergrund der Debatten über Migration und Integration im zurückliegenden Jahrzehnt. Es ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diese Akzeptanz der Vielfalt beobachten wir auch beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. Probleme gibt es noch bei Bewerbungen. Anonymisierte Verfahren haben sich nicht durchgesetzt. Es ist zudem fraglich, was diese Verfahren bringen. Wer nur aufgrund anonymisierter Verfahren die erste Stufe übersteht, scheitert dann eben auf der zweiten Stufe. Entscheidender ist auch hier der Zugang zu Netzwerken: Wem es nicht gelingt, als Geflüchteter oder als ausländischer Studierender bereits während des Studiums Kontakte zu Unternehmen aufzubauen, dem fällt der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt sehr schwer.


IK-Bau NRW

Wie verlaufen nach dem geglückten Berufsstart die Karrieren von Menschen mit Migrationshintergrund?

Caner Aver

Was dann nach dem Berufseinstieg in den Betrieben passiert, ist sicher auch eine wichtige Frage. Kultur- und religionssensible Beschäftigungspolitik ist sicherlich in Unternehmen heute relevant. Vor allem, wenn man Fachkräfte aus dem Ausland beschäftigen möchte. Spricht sich herum, dass das Unternehmen beispielweise einen Rahmen setzt, in dem etwa religiöse Gebote oder ähnliches eingehalten werden können oder die Belegschaft international ist, Mehrsprachigkeit gelebt wird, kann das ein Wettbewerbsvorteil bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte sein. Ein Problem für Migranten ist sicherlich der weitere berufliche Aufstieg. Je weiter es die Karriereleiter hinaufgeht, desto schwerer wird es für Menschen mit Migrationshintergrund vor allem ohne belastbare Kapitalausstattung, hier berücksichtigt zu werden. Doch muss man sagen, dass dieses Problem in Deutschland ganz allgemein für Menschen aus sozial schwächeren Familien gilt. Für Herkunftsdeutsche also gleichermaßen wie für Deutsche mit Migrationshintergrund, wenn sie aus sozial benachteiligten Milieus kommen. Eine Antwort auf diese Herausforderung ist die hohe Bildungsaffinität von Migranten, die sich weltweit beobachten lässt. Menschen verlassen ihre Heimat in der Regel mit dem Ziel, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Migranten wissen, dass ihr sozialer Aufstieg an Bildungserfolge geknüpft ist. Es gibt dazu aktuell keine Studien, aber meine subjektive Beobachtung lautet, dass insbesondere die Angehörigen der zweiten und vor allem dritten Generation ehemaliger Gastarbeiter nach oben preschen. Im Wirtschaftsleben gibt es dafür einige treffende Beispiele.


IK-Bau NRW

Im Bauwesen lässt sich grundsätzlich beobachten, dass im Zuge der Digitalisierung traditionelle Netzwerke an Bedeutung verlieren und sich gleichzeitig neue Netzwerke bilden. Lässt sich ähnliches auch im Hinblick auf Migranten beobachten?

Caner Aver

Ja, das lässt sich beobachten. Die Digitalisierung macht nicht Halt vor Menschen aus bestimmten Herkunftsländern. Die Grenzen verlaufen eher nach Alter und Affinität als nach Herkunft. In einem bestimmten Alter und mit dem entsprechenden Bildungshorizont hat die Digitalisierung bei Migranten den gleichen Stellenwert wie bei Herkunftsdeutschen. Was wir jedoch auch beobachten: Wenn sich vormals belastbare Netzwerke der Mehrheitsgesellschaft ins Digitale verschieben, wird damit der Zugang zu diesen Netzwerken für Migranten nicht unbedingt leichter. Zugleich ermöglicht die Digitalisierung den Zugang zu neuen Beschäftigungsoptionen in den Herkunftsländern und schafft dadurch neue Migrationsoptionen für hochqualifizierte Migranten. Studien belegen, dass diese Gruppe wanderungsaffin ist und die Möglichkeit einer zweitweisen internationalen Berufserfahrung im Herkunftsland in Anspruch nimmt, die später nach ihrer Rückkehr nach Deutschland dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stehen.


Caner Aver ist 1975 im niedersächsischen Schüttorf als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren und studierte nach dem Abitur 1995 Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Politikwissenschaften und Umweltpsychologie an der Ruhr Universität Bochum. Seit 2003 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung beschäftigt und forscht und publiziert dabei über Bildung und Hochschule, Transnationale Migration, Deutsch-türkische und türkisch-europäische Beziehungen und Gesellschaftliche Integration.


Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW

[Erstveröffentlichung im Kammer-Spiegel 11/2022]