Wie viel Vertrauen darf, wie viel Kontrolle muss sein? Qualifizierte Testate spielen eine zentrale Rolle im Baugenehmigungsprozess: Sie ersetzen in vielen Bereichen die bauaufsichtliche Prüfung und verlagern Verantwortung auf die Ingenieurinnen und Ingenieure. Über Chancen, Risiken und notwendige Rahmenbedingungen sprechen Dr.-Ing. Andreas Rose, Vizepräsident der IK-Bau NRW und Dipl.-Ing. Torsten Schröder, Kammermitglied und Technischer Beigeordneter der Stadt Kempen.
IK-Bau NRW: Herr Dr. Rose, Sie haben das Thema Vertrauen als Grundlage qualifizierter Testate in die Arbeit der Kammergremien eingebracht. Was hat Sie dazu veranlasst?
Andreas Rose: Ich habe irgendwann sehr deutlich erkannt, wie stark menschliches Verhalten durch Vertrauen geprägt ist – auch im Planen und Bauen. Wenn wir einer Person oder Institution vertrauen, handeln wir anders, effizienter. Daraus folgt für mich: Vertrauen ist keine Nebensache, sondern Grundlage unseres beruflichen Handelns. Qualifizierte Testate sind ein Weg, dieses Vertrauen zu strukturieren: Wer ein Testat abgibt, übernimmt Verantwortung – und wer es entgegennimmt, darf sich auf die geprüfte Aussage stützen, ohne alles noch einmal nachzurechnen. Dafür braucht es klare Regeln, Verlässlichkeit und eine Kammer, die diesen Vertrauensraum definiert und schützt.
IK-Bau NRW: Herr Schröder, Sie kennen das System aus zwei Perspektiven – als Kammermitglied und als Vertreter der Bauverwaltung. Wo begegnet Ihnen das Thema Vertrauen im Planungsalltag?
Torsten Schröder: Vertrauen begleitet uns täglich. In der Tragwerksplanung ist es etabliert, auch durch die zweite Ebene der Prüfingenieurinnen und -ingenieure. Anders sieht es in Fachgutachten aus – etwa Brandschutz, Verkehrsplanung, Artenschutz, Ausgleichsflächenbilanzierung. Wir als Genehmigungsbehörde tragen die rechtliche Verantwortung für die Entscheidung. Deshalb hinterfragen wir dort – sofern vorhanden – mit eigenem Fachpersonal das eine oder andere, gerade wenn es um Personenschutz geht. Viele kleinere Kommunen haben dieses Fachpersonal nicht mehr; dann wächst die Bedeutung verlässlicher Testate.
IK-Bau NRW: Qualifizierte Testate ersetzen in vielen Bereichen die bauaufsichtliche Prüfung. Ist das aus Ihrer Sicht ein Vertrauensvorschuss – oder Ausdruck von Systemnotwendigkeit?
Andreas Rose: Beides. Spezialisierung macht Prozesse besser. Wer ein Gewerk ständig plant und prüft, arbeitet oft effizienter und treffsicherer als eine Verwaltung, die alles „mitprüfen“ soll. Zugleich entlasten Testate die Bauaufsicht – das ist systemisch sinnvoll. Aber Vertrauen braucht Kontrolle: Die Kammer muss sicherstellen, dass Kompetenz und Integrität stimmen. Sonst gefährden einige schwarze Schafe das ganze Prinzip.
IK-Bau NRW: Die Verantwortung verlagert sich mit einem qualifizierten Testat auf das berufliche Urteil der Ingenieurinnen und Ingenieure. Wie stellt die Kammer sicher, dass ihre Mitglieder dieser Verantwortung gerecht werden?
Andreas Rose: Mit klaren berufsrechtlichen Standards, Fortbildung und Aufsicht. Vertrauen ohne Kontrolle funktioniert nicht. Wir brauchen nachvollziehbare Verfahren und gegebenenfalls stichprobenhafte Überprüfungen – etwa dort, wo digitale Plausibilitäten möglich sind, beispielsweise bei der Abstandsflächenberechnung. Wichtig ist eine Kultur des Verantwortungsbewusstseins: Wer ein Testat abgibt, muss wissen, dass er dafür einsteht. Das umfasst auch die Frage fairer Honorierung und eine angemessene Berufshaftpflicht. Nur dann können Testate das leisten, was sie versprechen.
IK-Bau NRW: Herr Schröder, verlassen Sie sich als Verwaltung bewusst auf qualifizierte Testate – oder ist es manchmal eher praktische Notwendigkeit?
Torsten Schröder: In kritischen Bereichen – vor allem Brandschutz – schauen wir, wenn wir die Expertise haben, noch einmal hin. Denn am Ende sind wir die Genehmigungsbehörde und werden bei Fehlern beklagt. Kleinere Kommunen werden wegen Personalknappheit künftig noch stärker auf Testate angewiesen sein. Das erhöht den Anspruch an Qualität und Eindeutigkeit der Gutachten.
IK-Bau NRW: Gibt es typische Situationen, in denen das Vertrauen in ein qualifiziertes Testat besonders auf die Probe gestellt wird?
Torsten Schröder: Immer, wenn es um Leib und Leben geht. Dort müssen Testate besonders belastbar sein. Ein anderes Feld sind Teilungen und GRZ-Fragen: Wenn etwa die Grundflächenzahl bei der Teilung übersehen wurde, fällt das spätestens bei der Genehmigung auf. Und ein praktisches Beispiel aus dem Lärmschutz: Ein Gutachten hatte Betriebszeiten genannt, aber nicht hinreichend bestimmt, wann das Gelände nach Ladenschluss tatsächlich geräumt ist. Das führte zur Aufhebung der Baugenehmigung. Solche Unschärfen dürfen nicht vorkommen.
IK-Bau NRW: Kommt es vor, dass Verwaltungen doch noch einmal „nachsehen“, obwohl ein qualifiziertes Testat vorliegt? Wo liegt hier die Grenze zwischen Kontrolle und Misstrauen?
Torsten Schröder: Ja, das kommt vor – dort, wo wir Fachwissen haben oder Risiken hoch sind. Kontrolle ist kein Misstrauen, sondern Sorgfaltspflicht. Unser Ziel ist nicht, das Testat zu „ersetzen“, sondern Plausibilität zu sichern. Gleichzeitig müssen wir vermeiden, aus Angst vor Haftung jedes Detail erneut zu prüfen – sonst verliert das Instrument seinen Sinn.
IK-Bau NRW: Wie gelingt es, das Gleichgewicht zu halten zwischen Entlastung der Verwaltung und Qualitätssicherung?
Andreas Rose: Durch eindeutig zugewiesene Verantwortung und einen rechtlichen Rahmen, der Ermessensspielräume zulässt. Wir brauchen weniger Maßgläubigkeit à la „3,00 Meter oder gar nicht“ und mehr fachlich begründetes Ermessen – transparent dokumentiert. Testate sollen Entscheidungen bündeln und entlasten, nicht „aufblähen“. Dafür ist eine Kultur der Verantwortung auf Seiten der Testierenden und eine maßvolle Kontrolle auf Seiten der Verwaltung nötig.
Torsten Schröder: Ermessen ist richtig – und anspruchsvoll. Beispiel Abstandsflächen: Ob 2,97 statt 3,00 Meter vertretbar sind, hängt vom Kontext ab. Solche Entscheidungen brauchen Berufserfahrung und gute Begründungen. Dann kann und sollte die Bauaufsicht das akzeptieren.
IK-Bau NRW: Was können Verwaltungen und Politik tun, um das Vertrauen in qualifizierte Testate zu stärken?
Andreas Rose: Komplexität reduzieren und Zuständigkeiten klären. In der Novelle der Bauordnung ist – etwa bei Abstandsflächen – vorgesehen, dass die Behörde bei Vorliegen eines Testats auf eine Prüfung verzichten kann. Das schärft Verantwortung. Ergänzend braucht es Fortbildungspflichten, klare Verfahren und – wo sinnvoll – digitale Plausibilitätschecks.
Torsten Schröder: Rahmen setzen und Honorierung ermöglichen. Qualität gibt es nicht zum Dumpingpreis. Wer Verantwortung übernimmt, muss angemessen bezahlt werden. Gebühren- oder Honorarsysteme, die ruinösen Wettbewerb verhindern, helfen der Qualität – und damit dem Vertrauen.
IK-Bau NRW: Könnten qualifizierte Testate Ihrer Meinung nach auch in digitalen Verwaltungsverfahren eine größere Rolle spielen?
Andreas Rose: Ja. Digitale Verfahren erlauben Plausibilitäten und algorithmische Prüfungen von Eingangs- und Bezugsdaten – etwa bei Abstandsflächen. So lassen sich Testate effizienter verifizieren. Digitalisierung ersetzt nicht das berufliche Urteil, sie stärkt es.
Torsten Schröder: In digitalen Workflows werden klare, eindeutige Testate noch wichtiger. Je präziser und maschinenlesbar, desto weniger Reibung im Verfahren – und desto mehr Vertrauen.
IK-Bau NRW: Herr Dr. Rose, was wünschen Sie sich als Präsidiumsmitglied in Bezug auf die Anerkennung qualifizierter Testate in der politischen Diskussion?
Andreas Rose: Mehr Zutrauen in verantwortliche Berufsträgerinnen und Berufsträger – und Gesetze, die Ermessen zulassen, statt alles bis ins Kleinste zu normieren. Qualifizierte Testate sind ein wirksames Mittel für Tempo und Qualität, wenn Verantwortung, Fortbildung, Aufsicht und faire Honorierung zusammenkommen.
IK-Bau NRW: Herr Schröder, was würden Sie sich von den Ingenieurinnen und Ingenieuren wünschen, die Testate verantworten?
Torsten Schröder: Klarheit, Eindeutigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Testate müssen fachlich belastbar und rechtlich eindeutig sein – ohne Unschärfen, die später zu Problemen führen.
Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW.
Dipl.-Ing. Torsten Schröder (links) und Dr.-Ing- Andreas Rose (rechts).