Das Fluthilfe-Symposium der IK-Bau NRW brachte viele Erinnerungen zurück und machte deutlich, wie sehr Extremsituationen auch Fachleute belasten können. Wie reagieren Menschen auf das Unerwartete? Was kann man vorbeugend tun und wie erkennt man bei Mitarbeitenden den Bedarf nach Unterstützung? Julia Leithäuser, Vizepräsidentin der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, erläutert im Gespräch, wie seelische Belastung entsteht, worauf Führungskräfte achten sollten und warum ein einfaches Gespräch oft der erste Schritt zur Resilienz ist.
IK-Bau NRW: Können Sie uns kurz die Aufgaben, Ziele und das Selbstverständnis der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen vorstellen?
Julia Leithäuser: Unsere Kammer existiert erst seit 1999 – also seit der Anerkennung des Berufs als Heilberuf. Wir sind damit eine vergleichsweise junge Kammer. Wir vertreten rund 15.400 psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten. Und demnächst, weil es bei uns eine Änderung in der Berufsbezeichnung und im Zugangsweg zur Weiterbildung gegeben hat, auch die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – also ohne den bisherigen Zusatz. Wir haben auch die Berufsaufsicht. Das heißt, bei uns können sich Patientinnen und Patienten melden, wenn sie das Gefühl haben, in ihrer Therapie läuft etwas nicht gut. Wir analysieren fortlaufend die Versorgungslage in der Psychotherapie und prüfen, welche Verbesserungen auf Landesebene möglich sind. Wir kennen natürlich das Problem der Unterversorgung. Wir sind zuständig für die Fortbildung der Kolleginnen und Kollegen – sowohl im ambulanten als auch im angestellten Bereich – und vertreten beide Gruppen. Wir bieten auch eigene Fortbildungen an. Im Wesentlichen sind wir die Stelle, bei der alle Fortbildungen gemeldet werden und die bestätigt, dass sie erbracht worden sind. Wie wahrscheinlich alle Kammern halten wir den Kontakt zur Landespolitik – insbesondere zum Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) unserem Aufsichtsministerium und führen dort regelmäßig Gespräche. Ein wichtiges Thema ist die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen. Wir sind in verschiedenen Arbeitsgruppen und Gremien vertreten, zum Beispiel in der Landesgesundheitskonferenz. Dort ist unter anderem die Krisenresilienz des Gesundheitswesens ein Thema. Ich selbst gehe heute zu einer Arbeitsgruppe – auch mit Schnittstelle zu Ihrem Thema –, in der ein Konzeptpapier zur psychosozialen Notfallversorgung von Betroffenen in Extremsituationen erarbeitet werden soll. Es gibt bereits ein Konzept für Einsatzkräfte – nun soll eines für Betroffene entstehen.
IK-Bau NRW: Welche typischen Belastungsmuster erleben Sie bei Menschen, die – wie unsere Fluthelferinnen und Helfer – professionell, aber fachfremd in Katastrophenlagen eingesetzt sind?
Julia Leithäuser: Wichtig ist zunächst: Menschen sind grundsätzlich in der Lage, mit belastenden Ereignissen umzugehen. Man kann nicht pauschal sagen, dass jedes belastende Ereignis zu einer Überforderung führt. Die Flut war sicherlich ein Extremereignis. Entscheidend ist, ob man in irgendeiner Weise gedanklich darauf vorbereitet ist. Ich glaube, das war in diesem Fall für niemanden gegeben. Auch aus unserer Kammer sind viele dorthin gefahren – in Eigeninitiative. Sie waren auf Menschen in Not vorbereitet, das gehört zu ihrem Beruf. Aber das Ausmaß der Zerstörung hat sie völlig unvorbereitet getroffen. Ereignisse, die das Vorstellbare überschreiten, überschreiten meist auch die seelischen Verarbeitungskapazitäten. Trotzdem führt nicht jedes Ereignis automatisch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Seele braucht Zeit. Erst nach etwa vier Wochen kann man sagen, ob die Belastung überwunden wurde oder nicht. Manche Symptome treten auch erst Jahre später auf. Ich könnte mir vorstellen, dass bei Ihrem Symposium auch deshalb noch einmal einiges sichtbar wurde – weil dort ein Raum geschaffen wurde, in dem überhaupt erst über das Erlebte gesprochen werden konnte. Aus den Praxen wissen wir: Es kommen immer noch Menschen, die im Zusammenhang mit der Flut Belastungen schildern. Manchmal sind es Betroffene, manchmal Angehörige – und immer noch auch Helfende. Das ist ganz normal.
IK-Bau NRW: Was kann man selbst tun, wenn man weiß, dass man vor einem solchen Einsatz steht?
Julia Leithäuser: Die Antwort ist im Grunde einfach: sich bewusst fragen, was einem in belastenden Situationen guttut. Was brauche ich, wenn ich mich einer belastenden Situation aussetze? Ganz banale Dinge – Essen, Trinken, Rückhalt durch andere. Wichtig ist, nicht allein zu bleiben mit dem, was man erlebt. Zu wissen: Wenn ich da jetzt hinfahre, was passiert danach? Auf wen treffe ich dann? Kann ich sprechen? Fühle ich mich gut? Körperliche Bewegung hilft vielen Menschen. Also vielleicht bewusst danach einen Spaziergang mit einer vertrauten Person einplanen – und entweder reden oder auch schweigen. Beides kann gut sein. Das ist individuell. Und: sich bewusst machen, dass man nicht direkt betroffen ist – dass man sich zurückziehen und eine Pause machen kann. Das ist wichtig, bevor man wieder in den Einsatz geht.
IK-Bau NRW: Macht es in dem Zusammenhang Sinn, grundsätzlich im Team zu arbeiten – auch wenn es fachlich vielleicht reichen würde, allein von Haus zu Haus zu gehen?
Julia Leithäuser: In einer Extremsituation kann ich mir ehrlich gesagt kaum vorstellen, allein unterwegs zu sein. Es muss nicht zwingend eine zweite Fachkraft sein – die sind ohnehin rar –, aber es sollte jemand dabei sein, der begleiten und emotional unterstützen kann. Eine Kooperation zwischen Helferkreisen vielleicht. Wenn es darum geht, ob ein Haus betreten werden darf oder nicht, ist es sinnvoll, dass jemand dabei ist, der die emotionale Reaktion mit auffangen kann.
IK-Bau NRW: Wenn man als Leiterin oder Leiter eines Büros viele Mitarbeitende im Einsatz hatte – worauf sollte man achten? Was könnten Warnsignale sein?
Julia Leithäuser: Wichtig ist, zu signalisieren: Mentale Probleme können auftreten. Solche Reaktionen sind eher die Regel als die Ausnahme – und es ist wichtig, sich in solchen Fällen gezielt Hilfe zu suchen. Führungskräfte werden es aber oft nicht direkt bemerken. Ein Alarmsignal sind vermehrte Krankmeldungen. Konzentrationsprobleme können auffallen. Meist aber berichten Betroffene nur auf Nachfrage – etwa von Schlafstörungen. Manche vermeiden bestimmte Aufgaben, Orte oder Situationen. Andere erleben belastende Ereignisse innerlich noch einmal – in Bildern, Geräuschen, Gerüchen. Es gibt auch das Phänomen der inneren Abkapselung – Menschen wirken stumpf, reagieren nicht mehr adäquat. Das ist für Führungskräfte schwer einzuschätzen. Hilfreich ist, nach einem solchen Ereignis aktiv zu informieren: Welche Symptome können auftreten? Was hilft und wo gibt es Hilfe? Vielleicht mit Unterstützung des betriebsärztlichen Dienstes. Entscheidend ist, das Signal zu setzen: Man darf sich Hilfe holen.
IK-Bau NRW: Die Nachfrage nach Therapieplätzen steigt – und zugleich erleben wir eine Zunahme an Krisen. Sind wir als Gesellschaft ausreichend vorbereitet?
Julia Leithäuser: Im Großen und Ganzen ja. Uns fehlt nicht der Nachwuchs, sondern die Bereitschaft, unsere Arbeit angemessen zu finanzieren. Ein großes Thema für uns ist die Finanzierung der neuen Weiterbildung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Wenn junge Kolleginnen und Kollegen nicht starten können, bekommen wir ein Nachwuchsproblem – und das wird dann zum Problem für die Versorgung insgesamt. Noch gelingt es, Versorgungslücken zu schließen – etwa über Kostenerstattung oder Gruppentherapien. Letztere sind gerade in Krisensituationen sehr sinnvoll. Kolleginnen und Kollegen, die ins Ahrtal gegangen sind, haben genau das gemacht. Wir merken auch: Die Themen in der Therapie verändern sich. Vor 15 Jahren spielte Klimaangst in der Therapie kaum eine Rolle – heute ist sie zunehmend präsent.
IK-Bau NRW: Gibt es hier konkrete Zahlen?
Julia Leithäuser: Deutlich spürbar war der Anstieg nach der Corona-Pandemie. Im Erwachsenenbereich stiegen die Anfragen um 40 %, im Kinder- und Jugendbereich um 60 %. Neuere Studien zeigen im Jugendbereich eine tatsächliche Zunahme von Erkrankungen. Bisher ließ sich der Anstieg eher mit gestiegener Inanspruchnahme erklären – die Entstigmatisierung wirkt. Menschen holen sich eher Hilfe. Aber ja – Themen wie Klimakatastrophe oder Krieg tauchen häufiger in der Therapie auf. Darauf müssen wir reagieren.
IK-Bau NRW: Wie kann man helfen, ohne sich selbst zu gefährden? Was stärkt die persönliche Resilienz?
Julia Leithäuser: Wenn ich weiß, was mir guttut, was mir Freude macht – und wenn ich nicht allein bin –, dann bin ich besser gewappnet. Mentale Gesundheit entsteht durch das, was unsere Grundbedürfnisse stärkt. So wie Ernährung und Bewegung – was auch psychisch sehr hilfreich ist. Das müsste stärker in Schulen, aber auch im Berufsleben vermittelt werden. Wichtig ist: eine vertraute Ansprechperson zu haben, mit der man sprechen kann. Kontakt zu anderen Menschen halten – das ist es, was uns schützt.
IK-Bau NRW: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW.