Prädiktive Qualitätskontrolle für eine nachhaltige Betonproduktion

Prädiktive Qualitätskontrolle für eine nachhaltige Betonproduktion

Im Gespräch mit der IK-Bau NRW gibt Hoang Anh Nguyen vom Berliner Start-up alcemy einen Einblick in die Möglichkeiten der prädiktiven Qualitätskontrolle bei der Zement- und Betonproduktion. Nguyen erläutert die Rolle der Technologie bei der Reduzierung des Klinkeranteils, diskutiert Umweltauswirkungen und beleuchtet die potenziellen Veränderungen der Arbeit des Planers durch CO₂-optimierte Betone.

Hoang Anh Nguyen
Hoang Anh Nguyen

IK-Bau NRW: Wie verlief Ihr Weg in die Bau- und Betonbranche?

Hoang Nguyen: Ich bin seit Oktober 2019 bei alcemy. Davor war ich beim Zentralen Immobilienausschuss und habe dort den Bereich Start-ups und Digitalisierung betreut. Über diese Schiene habe ich die Start-up-Welt kennengelernt und bin zu alcemy gekommen. Beim ZIA habe ich mich intensiv mit dem Gebäudesektor und den Dekarbonisierungspotenzialen durch digitale Lösungen beschäftigt, jedoch eher beim Betrieb als beim Bau einer Immobilie. Dennoch waren mir die immensen Umweltauswirkungen des Materials bewusst. In den letzten Jahren habe ich mich sukzessive in das Thema eingearbeitet. Dabei war der Kurs zum Betonprüfer der ARGE Beton ein wichtiger Schritt.

IK-Bau NRW: Was genau macht alcemy?

Hoang Nguyen: Das Softwareunternehmen alcemy wurde 2018 gegründet und hat eine prädiktive Qualitätssteuerung für Zement- und Transportbetonwerke entwickelt. Die Qualitätssteuerung bzw. das Prüfsystem basiert auf maschinellem Lernen. Wir verbauen auch Sensorik im Transportbetonwerk, nutzen aber meist die Daten, die in den Werken sowieso erhoben werden. Beispielsweise Labordaten im Zementwerk oder Dosierungsereignisse und Wirkleistungskurven im Transportbetonwerk. Die Daten werden in unser System eingespeist, und der Algorithmus lernt basierend auf diesen Daten etwas über die Qualitätseigenschaften des Zementes und des Betons. Das heißt, beim Zement wird die Feinheit prognostiziert, und beim Transportbeton das Ausbreitmaß, also die Konsistenz und Verarbeitbarkeit. Somit bieten wir zunächst einmal ein Qualitätsüberwachungstool. Grundsätzlich ist die Herstellung von Zement und Beton immer Schwankungen unterworfen, weil man es mit natürlichen Ressourcen zu tun hat. Die Qualitätssteuerung ermöglicht eine optimierte, gleichmäßige und engmaschig überwachte Herstellung. Ein CO₂-reduzierter oder ressourcenschonender Beton ist aber grundsätzlich sensibler als konventioneller Beton und größeren Schwankungen unterworfen, weil man den Zementklinkeranteil reduzieren muss. Das ist der Anteil, der für das CO₂ verantwortlich ist, der aber auch als der Klebstoff im Beton funktioniert. Wenn ich einen Beton mit besonders wenig Klinker herstellen will, ist die Produktion sehr herausfordernd. Fingerspitzengefühl und Produktion nach Augenmaß reichen dann nicht mehr aus, man braucht eine erweiterte Qualitätsüberwachung basierend auf Daten. Im Ergebnis bedeutet das, eine Qualitätsüberwachung hilft generell, aber sie hilft insbesondere bei den sehr herausfordernden nachhaltigen Zementen und Betonen.

IK-Bau NRW: Wie stark gelingt es denn, mit dieser Technologie den Zementklinkeranteil abzusenken?

Hoang Nguyen: Letztendlich ist die Absenkung des Klinkerfaktors im Interesse der Zementhersteller. Wir können nur Anreize schaffen, d.h. unsere Software läuft, und die Hersteller entscheiden, wie sie sie nutzen. Aber wir glauben, dass man den Klinkeranteil signifikant senken kann. Beim neu zugelassenen CEM X liegt der Klinkeranteil gerade noch bei 30 bis 35 Prozent. Zum Vergleich: Ein CEM IIIA beispielsweise, ein als ökologisch geltender Zement, hat immer noch einen Klinkeranteil von bis zu 80 Prozent.

IK-Bau NRW: Kann man beziffern, wie viel CO₂ sich auf diese Weise einsparen lässt?

Hoang Nguyen: Normalbeton basierend auf einem CEM I mit der sehr häufig verbauten Festigkeitsklasse C30/37 emittiert knapp 261 kg CO2. Bei einem auf Basis von CEM X hergestellten Beton sind das dann nur noch ungefähr 130 kg CO2. Wir glauben daher, dass schon heute mindestens 50 Prozent Einsparung bei vielen Bauteilen möglich sind.

IK-Bau NRW: In der Beton- und Zementproduktion werden hierzulande in erster Linie immer noch Primärrohstoffe verwendet. Welche Rolle spielen Rezyklate?

Hoang Nguyen: Mit unserer Software wird jede Art von Zement und Beton produziert. Im Vordergrund steht dabei die Qualitätsüberwachung. Aber wir wollen, dass am Ende klinkerarme Zemente und ressourcenschonende Betone hergestellt werden. Die heutige Zementwelt sieht so aus: Der Normalzement CEM I hat mit einem Klinkeranteil von 100 Prozent einen enormen CO₂-Abdruck. Mit dem Aufkommen des Emissionszertifikatehandels sind CEM II A, CEM II b bzw. CEM IIIC auf den Markt gekommen. Es gibt bestimmte CEM III-Reihen, bei denen 50 Prozent Klinker durch 50 Prozent Hüttensand substituiert wird. Es wird auch künftig noch weitere Entwicklungen geben wie CEM II C, hier ist der Klinkeranteil gleich geblieben, aber Hüttensand wird durch Kalksteinmehl substituiert. Das heißt, viele dieser neueren Produkte haben einen vergleichsweise geringen CO₂-Fußabdruck, weil sie einen Großteil des Klinkers durch Hüttensand substituieren. Hüttensand ist ein Abfallprodukt aus der Stahlindustrie und ist ein reaktives Material. Das bedeutet, wenn ich Hüttensand nutze und damit Klinker ersetze, dann muss ich an der Produktion selbst kaum etwas verändern. Die Crux ist jedoch: Hüttensand ist nur begrenzt verfügbar und an die Stahlproduktion gebunden. Das gilt für den ungebrannten, gemahlenen Kalkstein nicht, der in großen Mengen verfügbar ist. Der CEM X, der jetzt vom Deutschen Institut für Bautechnik seine Zulassung erhalten hat, besitzt zwar immer noch einen Hüttensandanteil von 30 Prozent, aber auch 35 bis 40 Prozent Kalksteinmehl.

IK-Bau NRW: Rezyklate spielen in Deutschland nach wie vor keine Rolle?

Hoang Nguyen: Zunächst muss man verstehen, das Recycling-Thema im Beton läuft parallel zum CO₂-Thema. Recycling verläuft heute so: Ich breche ein Gebäude ab, zerkleinere den Beton und substituiere damit den Kies. Ich benötige trotzdem den gleichen Anteil an Zement bzw. Zementklinker. R-Betone sind heute nicht zwingend CO₂-ärmer, auch wenn sie 30 Prozent rezyklierte Gesteinskörnung enthalten. Natürlich kann ich den R-Beton auch zerkleinern, ihn in seine Einzelbestandteile zerlegen, den Zement separieren und wieder in den Zementkreislauf überführen. Diese rezyklierten Brechsande wären ein echtes Substitut für den Klinker. Allerdings liegt Deutschland, was diesen Prozess angeht, Jahre hinter der Schweiz zurück.

IK-Bau NRW: Bestehen aus Ihrer Sicht genügend Anreize für Investitionen in klimafreundlichen Beton bzw. klimafreundliche Zemente?

Hoang Nguyen: Ich bin hier skeptisch und trotzdem optimistisch, weil man ja nichts anderes sein kann. In der Dekarbonisierungsstrategie der Zementindustrie gibt es gibt es verschiedene Wege zur Null, und wir werden vermutlich auch alle brauchen. Die Politik fokussiert sich derzeit auf Carbon Capture and Storage (CCS) und Carbon Capture and Utilization (CCU). Das bedeutet, ich verwende das CO₂ in irgendeiner Form weiter oder speichere es beispielsweise in leeren Erdgasfeldern in der Nordsee. Auch viele Hersteller fokussieren sich auf diese Technologie, obwohl sie sehr teuer ist. Dahinter steht womöglich das Kalkül, dass die Allgemeinheit zumindest einen Teil dieser Kosten tragen wird. Unser Weg ist ein anderer. Wir wollen das CO₂ im Prozess reduzieren. Bislang gibt es jedoch wenig politischen Rückenwind für klinkereffiziente Zemente. Klare Vorgaben würden die Nachfrage nachhaltiger Betonung natürlich stärken. Mit größerer Nachfrage wäre auch schnell klar, dass wir skalierbare Zemente und Betone brauchen, die weniger auf knappe Substitute wie Hüttensand und Flugasche setzen. Derzeit sind nachhaltige Betone noch 5 bis 10, manchmal bis 15 Prozent teurer. Das liegt auch an den hohen Preisen für die Substitute. Kalkstein ist ein sehr günstiger Rohstoff, wenn ich dann noch hinzurechne, dass Kosten für die CO₂-Zertifikate wegfallen, könnten sich die Preise künftig stark angleichen.

IK-Bau NRW: Wie wird sich das Planen und Bauen durch die neuen CO₂-optimierten Betone ändern?

Hoang Nguyen: Wir können von einem Produkt noch so sehr überzeugt sein, wenn der Polier auf der Baustelle sagt, mir gefällt die Konsistenz des Betons nicht, weil sie vielleicht von dem abweicht, was man die letzten dreißig Jahre verbaut hat, hat man ein großes Problem. Das heißt, man muss alle am Bau Beteiligten auf diesem Weg mitnehmen. Deshalb sprechen wir mit den Bauherren, mit Investoren in den Immobilienportfolios, mit den Planern und mit den bauausführenden Unternehmen. Wir wollen Ängste abbauen, aber auch zeigen, dass sich das Planen und Bauen ändern wird. Die Tage des Prinzips „One Size fits all“ sind gezählt. Einen CEM I kann ich immer und überall einsetzen, doch die Kosten für Umwelt und Klima sind enorm hoch. Das bedeutet, ich muss mir künftig jedes Bauteil ansehen und definieren, ob ich einen als ökologisch geltenden Beton wie den CEM X verwenden kann.

Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW.


Hoang Anh Nguyen ist Head of Communications und Sustainable Construction von alcemy, dem Berliner Start-up für eine klimafreundliche und dekarbonisierte Beton- und Zementindustrie. Er verantwortet die Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit und Zusammenarbeit mit Bauunternehmen und der Immobilienwirtschaft.

Zuvor war er als Digitalisierungs- und Innovationsverantwortlicher des ZIA Zentraler Immobilien Ausschuss e.V., dem Spitzenverband der Bau- und Immobilienwirtschaft u.a. für die Vernetzung von etablierten Immobilienunternehmen und der Startup-Szene zuständig. In dieser Tätigkeit baute er die ZIA Proptech-Plattform auf, die mittlerweile über 70 Startups im Bau- und Immobilienkontext bündelt. Zudem entwickelte er gemeinsam mit dem ZIA Innovation Think Tank den ZIA Innovationsradar, eine einzigartige Übersicht der Innovationspotenzials in der Branche.

Ehrenamtlich setzt sich Hoang beim Netzwerk solid UNIT e.V. als Sprecher für Nachhaltigkeits-Innovationen & Startups in der Bauwirtschaft ein. Zudem ist er Mitglied des Vorstands des AK Digital Real Estate & Construction des Bitkom e.V. und hat gemeinsam mit Sean Nolan (Concular) die Initiative “Vision: Sustainable Construction” gegründet, die sich für eine klimafreundliche Bau- und Immobilienbranche einsetzt.

Politisch war Nguyen von 2021-2023 als Vorsitzender des Stadtentwicklungsausschusses im Bezirk Berlin-Mitte tätig.