20.04.2023

INTERVIEW: „Wir müssen unseren Blick weiten und nicht nur auf die Standardlösung schauen"

Im Gespräch mit der IK-Bau NRW gibt Prof. Dr.-Ing. Christian Hartz spannende Impulse zu Themen wie Kreislaufwirtschaft und Wertschöpfung im Bauwesen der Zukunft, seriellem Bauen und zu der Frage, welchen existenziellen Herausforderungen sich kleine Büros im Zuge der Digitalisierung stellen müssen.

Prof. Dr.-Ing. Christian Hartz, Inhaber des Lehrstuhls Tragkonstruktionen an der Technischen Universität Dortmund
Prof. Dr.-Ing. Christian Hartz, Inhaber des Lehrstuhls Tragkonstruktionen an der Technischen Universität Dortmund
© Nikolas Golsch

Prof. Dr.-Ing. Christian Hartz im Interview


IK-Bau NRW

Im Auftrag von VPI und IK-Bau NRW haben Sie an der TU Dortmund die Studie „Zu konstruktionsbedingten Treibhausgasemissionen (GWP) in der Tragwerksplanung am Beispiel ausgewählter Decken- und Wandkonstruktionen im Hochbau“ verfasst. Worum genau geht es in der Studie?

Christian Hartz

Grundsätzlich möchte die Studie für die GWP-Bilanzierung von Tragwerkselementen sensibilisieren. Beraten haben uns dabei IK-Bau NRW-Vorstandsmitglied Alexander Pirlet und Christian Wrede von Bollinger & Grohmann. Gemeinsam haben wir, und hier möchte ich auch meine Mitarbeiter Christopher Krinitzki und Marc Kaczorowski mit einbeziehen, uns einen sehr typischen Grundriss eines Geschossbaus angeschaut und verschiedene Decken- und Wandsysteme bezüglich des Global Warming Potentials, dem globalen Erwärmungspotenzial, untersucht. Dabei lag der Fokus neben der detaillierten Bemessung der tragenden Struktur auch auf den Ausbauschichten zur Einhaltung der bauphysikalischen Anforderungen. Die GWP-Ermittlung basiert letztlich auf der Verschneidung einer Massenbestimmung der einzelnen Systeme mit den umweltbezogenen Informationen. Diese Datensätze können sowohl Datenbanken wie der ÖKOBAUDAT als auch generischen bzw. herstellerspezifischen EPDs entnommen werden. Letztlich werden die Mengen mit den deklarierten CO2-Äquivalenten der einzelnen Werkstoffe multipliziert und man erfährt, wie diese zum GWP beitragen.

IK-Bau NRW

Wie kann die Studie bei der praktischen Tätigkeit des Planers helfen, CO2 einzusparen?

Christian Hartz

Die Studie ist Anstoß und Leitfaden, wie man sich durch dieses etwas neuere Thema durcharbeitet. Wie gesagt, man macht eine Massenbestimmung für sein Bauwerk. Das lässt sich nicht allgemeingültig bestimmen, sondern muss am geplanten Bauwerk durchgeführt werden. Parallel dazu stellt man einen Datensatz aus den EPDs zusammen, um dann eine GWP-Analyse durchzuführen. Mit der Studie exerzieren wir das am Beispiel der gewählten Decken- und Wandsysteme einmal vor. Es geht also um eine Beispielrechnung. Die Massenermittlung kann bereits in der Vorplanung erfolgen, um ein erstes Gefühl zu bekommen. Wenn das Bauwerk am Ende dokumentiert wird, werden auch die Massen und eine GWP-Bilanzierung mit abgelegt. Dieser Prozess wird künftig Bestandteil jeder Planungsaufgabe sein. Erfahrungen lassen sich insbesondere über den Bestand aufbauen. In das Thema müssen sich jetzt alle Büros einarbeiten.

IK-Bau NRW

Welche Schritte sollten auf die Studie folgen?

Christian Hartz

Ein Aspekt der Studie ist, sich mit einer Vielzahl von Systemen auseinander zu setzen und nicht die „haben wir schon immer so gemacht“ Lösung aus der Schublade zu ziehen. Es gilt einzelne Tragelemente entsprechend der Bauaufgabe optimal zu kombinieren. Wir müssen unseren Blick weiten und nicht nur auf die Standardlösung schauen. Man sollte in Varianten denken. Auch an den Universitäten sollte der Fokus auf Varianten liegen und diese Varianten dürfen nicht nur monetär bewertet werden, sondern auch bezüglich ihres GWP. Wie Alexander Pirlet sagte: „das GWP ist wie eine zweite Währung“. Es gibt nicht mehr nur den Euro, sondern auch die CO2-Äquivalente. Das ist Teil des Gesamtkonstrukts und meiner Meinung nach sind diese beiden Währungen zumindest gleichwertig.

IK-Bau NRW

Wird der Bauherr das genauso sehen, solange es für die zweite Währung keine gesetzliche Grundlage gibt?

Christian Hartz

Ein gewisser gesetzlicher Druck ist unbedingt notwendig. Die öffentliche Seite wird ihre Bauvorhaben entsprechend steuern. In ihren Bewerbungen und Wettbewerbsbeiträgen müssen die Büros sich darauf einstellen. Auch die Haltung der privaten Bauherren ist sehr interessant. Auch reine Investitionsbauvorhaben, die wirklich nur auf eine bestimmte Rendite blicken, denken darüber nach, was passiert in zehn, 15 oder 20 Jahren mit diesen Investments. Die großen Immobilienfonds und Real Estate-Entwickler wissen, dass man mit dieser zweiten Währung rechnen muss. Ich glaube, dass die privaten Entwickler noch eher drücken als die öffentliche Hand, auch wenn diese bereits Nachhaltigkeitskriterien in VGV-Verfahren integrieren. Denn sie wollen ein zukunftsfähiges Produkt haben, das man vermarkten und auf dem Markt platzieren kann und die Nachfrage ist da. Wer heute ein Gebäude errichtet, braucht eine Energiezertifizierung und eine GWP-Zertifizierung, damit man mindestens 50 Jahre mit dem Gebäude rechnen kann. Allerdings halte ich diese Bilanzierungszeiträume für stark diskussionswürdig. Aber auf der öffentlichen und auf der privaten Seite ist ein hohes Bewusstsein vorhanden. Was noch fehlt, ist die letzte Konsequenz. Mehrkosten in der Erstinvestition stoßen zuweilen immer noch auf Ablehnung.

IK-Bau NRW

Sie sagten gerade, die Bilanzierungszeiträume seien diskussionswürdig. Warum?

Christian Hartz

Aktuell ist es so, dass man sich zumindest im deutschen Raum auf einen Bilanzierungszeitraum von 50 Jahren festgelegt hat, d. h., dass man den gesamten Baukörper auf einen Zeitraum von 50 Jahren denkt, das gilt für die Errichtung, den Betrieb und dann auch den Rückbau des Gebäudes. Aber 50 Jahre sind im Bauwesen kein Zeitraum. Wir müssen Gebäude in einem viel größeren Zeitraum denken. Das gilt nicht für alle Teile, aber gerade ein Rohbau sollte für 200, 300, vielleicht 400 Jahre gedacht werden. Deshalb funktioniert die Bilanzierung nicht für ein Gebäude als Ganzes. Die Haustechnik muss anders bewertet werden als der Innenausbau oder die Fassaden, und der Rohbau ist noch einmal ein ganz anderer Bereich. Man müsste sich also viel differenziertere Bilanzierungssysteme überlegen, die honorieren, dass man ein Gebäude in einem Zeithorizont von 400 bis 500 Jahren denkt. Das wurde früher auch so gemacht. Die Gründerzeitgebäude, die immer wieder als die gute Bausubstanz zitiert werden, wurden ja nicht gebaut, um sie nach 50 Jahren wieder abzureißen. Man hat sie gebaut, um sie der nächsten Generation zu übergeben. Das muss dann auch mit einer Architektur einher gehen, die man der nächsten Generation übergeben kann. Wir benötigen eine Architektur, die generationsübergreifend funktioniert. Es ist eben auch noch mal ein Riesenthema, wie wir derzeit Architektur denken, wie wir Investitionen in unsere Baukörper denken. Ein Bauwerk besitzt einen anderen Fokus als Konsumgüter wie Elektronik oder Autos, die einen anderen Bilanzierungszeitraum haben, weil hier die Entwicklungen auch viel schneller voranschreiten. Ein Gebäude muss man anders denken als eine Hose oder ein Telefon.

IK-Bau NRW

Im Hinblick auf die Erreichung der CO2-Ziele im Bauwesen: Was können und wissen wir schon, setzen es nur noch nicht um? Wo stehen wir noch vor einem ungelösten Problem, ist also Forschung nötig?

Christian Hartz

Der Beton ist der CO2-Sünder, auf dem alle herumreiten. Aber auch in diesem Bereich wird geforscht. Wir werden aus der chemischen Formel, das heißt aus den rohstoffbedingten Prozessemissionen, das CO2 nicht herausstreichen können. Doch letztendlich ist Beton Zuschlag mit Kleber und der Zuschlag ist nur gering CO2-belastet. Aber am Kleber, den wir benutzen, wird sehr viel geforscht. Die Frage ist also, welchen Kleber können wir in Zukunft verwenden. Wir brauchen einen hydraulischen, also wasserfesten Kleber. Es gibt schon heute eine Entwicklung weg vom Portlandzement hin zu CEM III-Zementen. Ich bin kein Beton- oder Materialexperte, denke aber, das Thema wird uns noch eine Weile begleiten. Blicken wir auf den Hochbau, kann man alles oberhalb der Baugrube schnell betonreduziert denken, unterhalb der Baugrube ist das sehr viel schwieriger. Aber auch hier gibt es aktuelle Vorhaben, bei denen beispielsweise Holzpfahlgründungen wieder in den Fokus rücken. Die Innenstädte von Berlin, Frankfurt am Main oder Dresden stehen seit 250 Jahren und noch länger auf Holzgründungen. Pfahlgründungen haben eine völlig andere CO2-Bilanz als eine riesige weiße Wanne mit einer vier Meter dicken Betonsohle. Noch interessanter wird es, wenn wir auf die Infrastruktur schauen. Bei Straßen, Tunneln und Brücken sprechen wir über Asphalt, Beton oder Stahl. Hier gibt es noch viel zu tun.

IK-Bau NRW

Ein anders Thema in diesem Kontext ist die Kreislaufwirtschaft, über die viel gesprochen wird, bei der es in der Umsetzung aber sicher noch viel zu tun gibt. Wie ist nach Ihrer Einschätzung der Status Quo und wohin müssten wir uns in welchem Zeitraum bewegen?

Christian Hartz

Die Kreislaufwirtschaft ist ein Schlüsselfaktor. Mit einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft hätten wir ein großes Problem gelöst. Das Ziel ist, Bauelemente möglichst als Ganzes rückzuführen und neu zu verwenden. Jahrhundertelang haben wir das so gemacht. Niemand hat Steine oder einen einmal gerichteten Holzquerschnitt weggeworfen. Diese wurden angeschaut und wiederverwendet. Heute müssen wir aber Normungs- und Qualitätsmerkmale einhalten. Das bedeutet, bei der Rückführung der Baumaterialien muss man garantieren, dass das entsprechende Element eine gewisse Qualität besitzt. Genau in diesem Prozess liegt heute der Bruch, das ist die Schnittstelle, an der wir arbeiten müssen. Wir brauchen ein Siegel als Qualitätsmerkmal, das sagt, dieses Bauelement besitzt bestimmte Eigenschaften, man kann es wieder einsetzen. Das haben wir zurzeit nicht. Früher gab es einfach eine visuelle Prüfung auf der Baustelle. Der Zimmermann hat sich den Querschnitt angeschaut und entschieden. Die Steine wurden sauber geklopft, zusammengestellt und für den nächsten Bau wiederverwendet. Diesem Rückführen verschließen wir uns noch. Es gibt zwar einige Hersteller auf dem Markt, die versprechen, alles, was sie verbauen, wieder zurückzunehmen. Aber wer weiß, ob eine Firma in 50 Jahren noch existiert. Wir brauchen vielmehr offene Standards und ein allgemeingültiges Rückführungssystem.

IK-Bau NRW

Was muss passieren, damit die Kreislaufwirtschaft Fahrt aufnimmt?

Christian Hartz

Wir haben ja jetzt wieder ein eigenes Bundesbauministerium und solche Themen müsste man dort aufgreifen. Aber ich erkenne hier im Moment noch nicht die richtigen Ideen, das Bauwesen als Ganzes in die Zukunft zu führen. Es werden zwar immer mal wieder Leuchtturmprojekte propagiert, aber die große Masse wird produziert wie immer. Das Bauministerium sollte sich überlegen, wie man das mit standardisierten Verfahren für die gesamte Bauwirtschaft allgemeingültig einführen könnte. Bei Elektronikprodukten ist klar, dass sie diese bei jedem Hersteller wieder abgeben können. Diese Verpflichtung sollte auch für das Bauwesen allgemein gelten.

IK-Bau NRW

Wie wird denn Wertschöpfung in einer funktionieren Kreislaufwirtschaft aussehen?

Christian Hartz

Das Thema kann nicht nur auf das Bauwesen beschränkt werden. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die den Konsum braucht, um den Wohlstand zu erhalten, und das betrifft nicht nur das Bauwesen. Die Frage ist, kann man Wertschöpfung in ein System ohne starke Konsumfokussierung implementieren. Meiner Meinung nach geht das. Sie haben beim Konsum zwei Faktoren: Masse und Qualität. Masse bedeutet einen großen Ressourcenverbrauch, Qualität bedeutet, ich nehme weniger Ressourcen, überführe sie in ein hochwertiges Produkt mit hoher Langlebigkeit und dieser Langlebigkeit verleihe ich den höchsten Status. Ich kann also einen langen Nutzungszeitraum generieren, habe aber ein höheres Erstinvestment. Das Bauwesen wäre dafür prädestiniert. Das würde bedeuten, hochwertige Baukörper, hochwertige Architektur einhergehend mit der Überlegung, wie ein Bauwerk und die Infrastrukturanbindungen über Generationen funktionieren. Langsamer mit höherwertigeren Produkten für einen größeren Nutzungszeitraum bauen. Die Wertschöpfung muss also über einen größeren Zeitraum gedacht werden. Zurzeit ist das jedoch noch ein wenig Wunschdenken. Gerade bei der Investmentarchitektur liegen die Finanzierungszeiträume oft nur bei wenigen Jahrzehnten. Das ist ein viel zu kurzer Zeitraum, der nicht ausreicht. Wir schaden dadurch auch unseren Städten. Statt ständig etwas an ihnen zu verändern, sollte man sie gleich so erschaffen, dass sie lange funktionieren. Und die Werkzeuge dazu haben wir.

IK-Bau NRW

Die Baubranche ist immer noch analoger als andere Branchen. Woran liegt es, dass sich Planungsbüros mit der Digitalisierung schwertun? Beispielsweise, wenn es um die Anwendung von BIM geht?

Christian Hartz

Digitalisierung wird oft gleichgesetzt mit einer größeren Effizienz der Prozesse und größere Effizienz soll zu mehr Produktivität führen und wird deswegen gepusht. Hinzu kommt noch, dass sich die Prozesse digital besser dokumentieren lassen. Im Bauwesen verläuft die Digitalisierung bislang eher träge, weil wir keine Serienproduktion haben, sondern Prototypen erstellen. Diese Prototypen werden sehr individuell auf die einzelnen Aufgaben zugeschnitten. Natürlich gibt es Details, die man immer wieder verwendet. Aber auch diese müssen an die entsprechende Planungsaufgabe angepasst werden. Das ist ein hochgradig schwierig zu parametrisierender oder zu digitalisierender Prozess. Hinzu kommt: Die Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, also die Software, die dahintersteht, funktioniert sehr gut mit Standardlösungen. Man greift in einen Container, sucht sich das raus, was gebraucht wird, und versucht, das zu adaptieren. Größere Büros beschäftigen Programmierer, die die von der Industrie zur Verfügung gestellten Softwarelösungen anpassen, um Schnittstellen zu bereinigen etc. Softwareseitig gibt es also noch ein erhebliches Entwicklungsdefizit. Die Lösungen, die wir jetzt haben, beispielsweise Autodesk oder auch die Produkte von Nemetschek oder Trimble, die mehr oder weniger weltweit eingesetzt werden, haben ihre Wurzeln in den 80er oder 90er Jahren. Die beruhen auf Softwarekomponenten, die aus einer völlig anderen Zeit kommen, teilweise noch aus der 2D-Welt, die dann aufwendig in die 3D-Welt überführt wurde. Später wurde auch noch BIM implementiert. Aber diese Produkte oder Programme gehen nicht von einem Architekturmodell aus, das sich in ein 3D-Modell umsetzen lässt und eine hohe Entwurfsfreiheit ermöglicht. Aktuell funktionieren diese Produkte gut bezüglich der Dokumentation eines fertigen Baukörpers, aber im Entwurf funktionieren sie überhaupt nicht. Hier ist seitens der Hersteller noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten. Es muss auch die Frage beantwortet werden, wie die kleineren Büros in der Digitalisierung mit den größeren mithalten können und wieviel Anpassung man in diesen Büros noch leisten muss, damit die Workflows funktionieren. Statt eines durchlaufenden Arbeitsprozesses sind diese oft zu stark in Teilgebiete fragmentiert. BIM ist zudem sehr kopflastig. Die Büros sind gezwungen, sehr früh Dinge zu bedenken, die man in der konventionellen Arbeitsweise erst viel später berücksichtigen würde. In der analogen Welt arbeitet man oft mit Platzhaltern, d. h. man weiß ungefähr, wie etwas aussehen wird, muss es aber noch nicht in 3D darstellen. Nun muss viel früher über mehr Dinge nachgedacht werden. Das verlangt zusätzliche Arbeitszeit, die honoriert werden muss. Die Berechnung der Leistungsphasen passt noch nicht zu den Digitalisierungsprozessen. Am Anfang wäre zusätzliches Kapital nötig, weil man besser planen und mehr vordenken müsste, positiv auch im Sinne einer nachhaltigeren Planung. BIM erfordert in dieser Hinsicht große Disziplin.

IK-Bau NRW

Welche Veränderungen könnten Technologien wie KI, Robotik/additive Fertigung für die Branche mittel- und langfristig bewirken?

Christian Hartz

Das ist eine sehr schwierige Frage. Bei der Robotik und der additiven Fertigung stellt sich für mich das gleiche Problem wie bei BIM. Man betritt den Bereich der programmierten Architektur. Mit einem leeren Blatt Papier sind sie komplett frei in der Entwicklung ihrer Ideen. In dem Moment, in dem sie eine Software verwenden, werden sie durch die Software bereits eingeschränkt. Im Hinblick auf die additive Fertigung und die Robotik heißt das, sie müssen zunächst eine Idee entwickeln und dann bauen sie den Roboter. Wenn sie die Prozesse aber umdrehen, also zunächst den Roboter haben und dann die Idee entwickeln, ist man bereits gefangen in der Logik des Prozesses. Das bedeutet, alles, was mit Robotik und additiver Fertigung zu tun hat, geht in Richtung Serienfertigung. Normalerweise funktioniert das Bauwesen aber so nicht. Grundsätzlich benötigen wir einen flexiblen Fertigungsprozess, weil wir Prototypen bauen. Damit ist im Ingenieurwesen und in der Architektur ein Anspruch verbunden. Als ich bei „Skidmore, Owings & Merrill LLP“ gearbeitet habe, war ein Leitgedanke, mache niemals zweimal das Gleiche, wiederhole dich nicht, schau dir die Referenzen an und versuche aus den Referenzen wieder ein besseres Produkt zu entwickeln. Das ist der Anspruch der Architektur, und das ist auch der Anspruch der Tragwerksplanung im Ingenieurwesen. Das bedeutet, sie müssen im Grunde eine Fertigung entwickeln, aus der hervorgeht, was noch gar nicht gedacht wurde. Das Thema KI kann hier vielleicht künftig helfen. Aber noch weiß ich nicht genau, ob KI ein Hype oder wirklich eine neue Technologie ist. ChatGPT kann allerdings bereits heute die Standardklausuraufgaben besser lösen als die meisten Studierenden und das wird wohl Rückwirkungen auf die Lehre haben. Wenn eine KI mit hunderttausenden Bauwerken trainiert wurde, dann muss man sehen, ob daraus eine Knopfdruck-Architektur entsteht. Man drückt so lange auf den Knopf, bis etwas entsteht, was einem zusagt.

IK-Bau NRW

Serielles Bauen wird von der Politik regelmäßig als ein Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot genannt. Es gibt Unternehmen, die sich auf dem Markt tummeln und deren Gründer aus anderen Branchen kommen. Deren Narrativ verspricht Lösungen für einige Probleme, die sie eben skizziert haben, weil die Unternehmen sowohl die Software als auch die Hardware beherrschen. Können Sie sich vorstellen, dass solche Unternehmen für den Bausektor eine ähnlich disruptive Wirkung entfalten können wie beispielweise Amazon oder Zalando im Handel?

Christian Hartz

Das Thema serielles Bauen ist nicht neu. Der Begriff ist jetzt wieder in aller Munde, weil man hofft, dass eine hohe Vorfertigung und Vorplanung zu schnellerem Bauen führen. Das serielle Bauen wird dann interessant, wenn diese einhergeht mit einer hohen Flexibilität in der Architektur. Serienfertigung birgt die Gefahr, zum hoffentlich überwundenen Plattenbau zurückzukehren. Daraus entstünde eine auch aus humanistischen Gründen nicht akzeptable Architektur. Die Frage ist also, wie schaffen wir es, trotz serieller Fertigung hochwertige Architektur zu schaffen. Darüber denken auch wir hier an der Uni nach. Das serielle Bauen an sich ist nicht das große Thema. Das können wir im Holzbau, das können wir im Mauerwerk, das können wir im Beton, das können wir im Stahlbau. Die Frage lautet eben: Wie wird daraus Architektur? Denken wir an Firmen, die serielles Bauen als Generalunternehmen anbieten, sind wir schnell wieder bei dem eingangs skizzierten Problem: Wir brauchen im Bauwesen offene Standards, keine proprietären Lösungen eines einzelnen Anbieters. Diese Unternehmen denken nicht in Zeiträumen, in denen man im Bauwesen denken sollte. Der Grundgedanke ist dann reizvoll, wenn die Marktteilnehmer sich einem offenen Standard verschreiben. Ein Unternehmen, das den Markt praktisch komplett aufrollt, wie Zalando oder Amazon, müsste im Bauwesen eine umfassende Infrastruktur und ein aufwendiges Logistiksystem aufbauen. Das ginge mit einer sehr großen Marktmacht einher. Da stellt sich zunächst die Frage, wollen wir das, oder wollen wir nicht eher dezentrale Systeme? Die Frage ist letztlich, kann es Monopole im Bauwesen geben? Davon halte ich nichts. Offene und allgemein zugängliche Standards erlauben regionale Unterschiede, lokale Lieferketten, Bauen mit lokalen Ressourcen und bewahren und fördern somit regionale Baukunst.

IK-Bau NRW

Welche Herausforderung stellt die Digitalisierung insbesondere an kleine Planungsbüros?

Christian Hartz

Die meisten Planungsbüros sind so genannte Microbusinesses mit wenigen Mitarbeitern. Durch die Digitalisierung droht diesen Büros ein enormer Kostendruck. Die meisten werden sich zusammenschließen, weil sie die Herausforderungen allein nicht werden bewältigen können. Die Digitalisierung erhöht die Fixkosten für Server, für Lizenzen, für andere zusätzliche Infrastruktur, für die Datenaufnahme, die Datenverwaltung, für Sicherungssysteme und vieles andere so sehr, dass ein Büro mit zwei oder drei Personen zu wenig Umsatz generiert, um diese Kosten zu tragen. Das bedeutet, man muss entweder Bürogemeinschaften bilden, man bleibt im Microbusiness, teilt sich aber die Kosten der vor allem digitalen Infrastruktur, und verschiedene Büros spezialisieren sich auf unterschiedliche Bereiche. Die Alternative ist, von einem größeren Büro übernommen zu werden oder keine Aufträge mehr zu erhalten, weil sie sich am Markt nicht mehr platzieren und an Ausschreibungen beteiligen können. Die größeren Büros haben intern bereits eine umfassende Infrastruktur aufgebaut, damit ihre einzelnen Abteilungen hoch-produktiv arbeiten können. Das verlangt nach hohen Erstinvestitionen. Es gibt viele kleine Büros, die ihre Statik noch mit Excel-Tabellen erstellen. Mit einer einmal erstellten Excel-Tabelle, die alle Nachweise enthält, kann jedes Einfamilienhaus berechnet werden. Auch hier stellt sich wieder die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines allgemeingültigen Prozesses für jedwede Bauaufgabe.

Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW