03.11.2025

Am 30. Oktober 2025, hat die Bundesingenieurkammer die Müngstener Brücke als Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland ausgezeichnet. Die Verleihung im Haus Müngsten, mitten im Brückenpark, wurde zur Lektion über Mut, Maß und ingenieurtechnische Präzision – und zu einem Plädoyer dafür, das Erbe des Ingenieurbaus als Teil unserer Kultur ernst zu nehmen.












Der Titel Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst wird seit 2007 vergeben. Bedingung: Das Bauwerk steht in Deutschland, ist älter als 50 Jahre und hat den Ingenieurbau geprägt. 31 Bauwerke tragen die Auszeichnung bereits, darunter Wahrzeichen wie das Zeltdach des Olympiastadions in München, der Leuchtturm in der Außenweser oder der Gasometer Oberhausen. Nun also die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands: 107 Meter über der Wupper, 170 Meter Spannweite, 465 Meter Gesamtlänge.
Die Brücke ist ingenieurhistorisch ein Statement. Ihr parabelförmiger, beidseitig frei vorgebauter Bogen galt schon bei der Errichtung als kühne Lösung. Entworfen von Anton Rieppel und Bernhard Rudolf Bilfinger, montiert mit fast einer Million heiß geschlagener Niete. Ein Bau in einer Zeit, als es keine Rechenprogramme gab, sondern Baumeister - die Verantwortung trugen - und Risiko. „Unsere Vorväter mussten ihr Ingenium einsetzen“, sagte Ingolf Kluge, Vizepräsident der Bundesingenieurkammer und Vorsitzender des Fördervereins Historische Wahrzeichen, zum Auftakt. „Sie dachten vor dem Bauen – und sie bauten so, dass es hält.“
Plakette enthüllt, Botschaft gesetzt
Moderiert von WDR-Journalistin Kerstin von der Linden führte die Feier zum Höhepunkt des Tages: Ingolf Kluge und Dr.-Ing. Heinrich Bökamp, Präsident der Bundesingenieurkammer und der Ingenieurkammer-Bau NRW, enthüllten die Aluminium-Tafel, die künftig Besucherinnen und Besuchern den Rang des Bauwerks erklärt. Ein formaler Akt – und doch mehr. In Zeiten gesperrter Brücken und komplizierter Genehmigungen ist die Botschaft deutlich: Ingenieurbaukunst ist kein nostalgisches Kapitel, sie ist Gegenwart.
Die Brücke, so Heinrich Bökamp, dränge sich nicht auf. „Wer sie sieht, sieht nicht zuerst Eisen, sondern Geduld: fünf Jahre Planung, drei Jahre Bauzeit, 128 Jahre Standfestigkeit.“ Fortschritt bestehe nicht nur aus Neuem. „Wir zeichnen die Brücke nicht aus, weil sie alt ist, sondern weil sie bleibt.“ Er bekannte sich zur Bewahrung: Erhalt vor Abriss, wo immer es verantwortbar ist. Und verband Technik mit Haltung: Nachhaltigkeit sei „eine Frage des Gewissens, nicht des Marketings“.
Gespräch über Konstruktion, Mythos und Schönheit
Zum gewichtigen Teil der Feierstunde gehörten drei Stimmen, die das Bauwerk aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchteten: Dr. Alexander Kierdorf, Architekturhistoriker und Industriearchäologe; Niko Bogdanovic, Gästeführer und Kenner der regionalen Geschichte; und Dr.-Ing. Jens Kalameya, Brückenexperte aus Dortmund, dessen Büro PSP die Müngstener Brücke seit Jahren begleitet.
Kalameya sprach über Statik ohne Abschweifung. Wie hält das alles? Durch Systematik, Gelenke, definierte Verformungspunkte – und durch konsequente Konstruktion, die das Rechnen in Realität überführt. Entscheidend, so seine Beobachtung aus mehr als hundert Begehungen: die Nietverbindungen. „Wir haben nie einen versagten Niet gefunden.“ Die alte Technik erweise sich als zäh und verlässlich. Und sie erzähle von einer Kultur des Vertrauens: Ingenieur, Baufirma, Prüfstellen – alle zogen in eine Richtung. Mut war die Voraussetzung. „Der erste Gedanke muss sein: Wir können das.“
Bogdanovic holte das Bauwerk in die Region. Er sprach vom „Wahrzeichen“ der drei Städte, von staunenden Touristinnen und Touristen, von Schweigen, das vor der ersten Erklärung einsetzt. Er erinnerte an die provisorische Behelfsbrücke aus dem Nord-Ostsee-Kanal-Bau, die den Vortrieb von beiden Ufern erst möglich machte. Und er entzauberte eine der hübscheren Legenden: den goldenen Niet. „Es gibt keine Hinweise“, sagte er trocken. Wenn es ihn je gegeben hätte – er wäre längst überlackiert.
Kierdorf setzte das ästhetische Argument. Die Müngstener Brücke sei „reine Konstruktion“ – ohne Ornament. Gerade deshalb schön. Sie stehe in einer Reihe mit den großen Stahlkonstruktionen des späten 19. Jahrhunderts, die zeigten: Schönheit entsteht aus der Logik der Kräfte. Der Historiker erinnerte an Kaiser Wilhelm II., der Brücken gerne mit Türmen und Portalen „krönte“. Die Moderne habe gelernt, die klare Struktur selbst sprechen zu lassen. In Müngsten zeigt sich: Form folgt Funktion – und wird dabei groß.
Ein Blick zurück – und nach vorn
1893 begannen die Arbeiten, schon 1897 rollten die Züge. Die industrielle Logistik war eine Leistung für sich: Werkseisenbahnen, provisorische Brücken, Seilbahnen an den Hängen von Remscheid und Solingen. In den 1960er-Jahren verflachte die Pflege. Teilsperrungen, Abrissdebatten. Von 2013 bis 2021 sanierte die Deutsche Bahn grundlegend – rund 30 Millionen Euro flossen. Das Bauwerk atmet wieder.
Und es strebt weiter: Zusammen mit weiteren europäischen Fachwerkbogenbrücken des 19. Jahrhunderts läuft die Bewerbung für die UNESCO-Welterbeliste. Nicht als deutscher Solist, sondern als Verbund, der die europäische Lernkultur im Ingenieurwesen sichtbar macht. „Wir unterstützen die Bewerbung“, sagte Bökamp. Brückenbau präge Regionen und stifte Identität – über Grenzen hinweg.
Warum Müngsten wirkt
Wer vom Parkplatz in den Brückenpark geht, erlebt den Effekt. Erst der Wald, dann das Tal – dann der Bogen. Die Brücke steht, aber sie versperrt nicht. „Ein Gewinn des Tals“, nannte Kalameya dieses Paradox. Die Konstruktion ordnet sich der Landschaft nicht unter, sie tritt mit ihr in Beziehung.
Ein Wahrzeichen, das trägt
Die Auszeichnung der Müngstener Brücke zeigt, dass Teil unseres kulturellen Gedächtnisses ist. Solche Anlässe schaffen Aufmerksamkeit für das, was im Alltag zu oft ungesehen bleibt: die Arbeit von Ingenieurinnen und Ingenieuren, die Verantwortung übernehmen, Tragwerke planen und unsere gebaute Umwelt sichern.
Infokasten: Müngstener Brücke – Zahlen und Fakten
Baujahre: 1893–1897
Konstruktion: Parabelförmiger, beidseitig frei vorgebauter Stahlbogen; Nietbauweise
Daten: 107 m Höhe, 170 m Spannweite, 465 m Länge
Sanierung: Grundinstandsetzung durch die Deutsche Bahn, 2013–2021, rund 30 Mio. €
Rang: Höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands
Auszeichnung: Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland (verliehen am 30.10.2025)
UNESCO: Seriennominierung mit europäischen Fachwerkbogenbrücken des 19. Jahrhunderts in Vorbereitung
Stimmen des Tages
Ingolf Kluge: „Die Ingenieure können etwas – und sie konnten es schon, als es noch keine Rechner gab.“
Dr.-Ing. Heinrich Bökamp: „Wir zeichnen die Brücke nicht aus, weil sie alt ist, sondern weil sie bleibt.“
Dr.-Ing. Jens Kalameya: „Der erste Gedanke muss sein: Wir können das.“
Dr. Alexander Kierdorf: „Schönheit kann aus der Konstruktion entstehen.“
Niko Bogdanovic: „Erst kommt das Staunen – dann die Worte.“


