09.09.2021

Klimaschutz im Bausektor: Die Entscheidung fällt im Bestand

Klimaschutz im Bausektor: Die Entscheidung fällt im Bestand

Das Bauwesen verursacht rund 40 Prozent der deutschen C0²-Emissionen, ist für 35 Prozent des Energieverbrauchs verantwortlich und produziert 60 Prozent des Abfalls. Doch ein nachhaltiger, klimaneutraler und ressourcenschonender Bausektor ist möglich: Längst haben Ingenieurinnen und Ingenieure entwickelt, was technisch zunächst notwendig ist: In vielen Neubauten lässt sich der Stand der Ingenieurtechnik bestaunen. Doch nur wenn es gelingt, den Bestand nachhaltig zu sanieren, wird die Bauwirtschaft ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten können. Hierzu bedarf es eines Dreiklangs aus politischem Willen, sozialem Ausgleich und technischen Lösungen, die nicht allein vom Sanierungswillen des Individuums abhängen. Das ist das Ergebnis der Ingenieurimpulse, bei denen am 7. September in der „Alten Glaserei“ am Mirker Bahnhof in Wuppertal namhafte Experten die „solar . passiv . zirkulär - Zukunft des Bauens“ auf Einladung der EnergieAgentur.NRW und der Ingenieurkammer-Bau NRW und unter Leitung von Hörfunk-Moderator Ralph Erdenberger diskutierten.

Solarpflicht für alle?

Entsprechend des Untertitels „solar . passiv . zirkulär“ wandte sich die Diskussion zunächst der Solarenergie zu. Ist eine Solarpflicht nach dem Vorbild Baden-Württembergs auch ein Modell für Nordrhein-Westfalen oder gar den Rest der Republik? In Baden-Württemberg gilt die Solarpflicht zunächst ab dem 1. Januar 2022 für Nicht-Wohngebäude und dann ab Mai 2022 auch für den Neubau von Wohngebäuden. Prof. Dr.-Ing. Karsten Voss von der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal begrüßt die Regelung und erkennt darin ein Modell für die ganze Republik. Oft nehme man Solaranlagen bei Neubauten gar nicht mehr wahr, sie seien zu einem selbstverständlichen Bauteil geworden. Eine gesetzliche Maßnahme entfalte eine große Wirkung, und wenn es freiwillig nicht gehe, müsse der Gesetzgeber eben einschreiten. Möglicherweise würden sich mehr Bürger für eine Solaranlage entscheiden, wären ihnen ihre CO2-Emissionen bewusst. Abhilfe könnte ein verpflichtendes Energiemonitoring für jeden Haushalt schaffen. Dipl.-Ing. Dirk Mobers, Leiter Themengebiet „Wärme/Gebäude“ bei der EnergieAgentur.NRW, ergänzt, dass jeder Bürger im Grunde selbst schuld sei, wenn er auf die Nutzung der Solarenergie verzichte. Denn es gebe praktisch für jeden Haushalt eine wirtschaftliche Lösung. Eigentlich solle eine gesetzliche Pflicht nur die letzte Möglichkeit sein, aber manchmal müsse man die Menschen zu ihrem Glück zwingen. Auch könne die Digitalisierung einen Beitrag leisten: Gut gemachte Apps, die den persönlichen Verbrauch überwachten, setzten Anreize, C02 einzusparen. Auch Prof. Dr.-Ing. Benjamin Krick, Mitglied der Geschäftsführung des Passivhaus Instituts/Darmstadt sieht Solarpflicht und Energiemonitoring positiv. Allerdings sollte auf das Monitoring dann eben auch eine Optimierung des Verbrauchs folgen.

Photovoltaik oder Solarthermie?

Doch Solar sei nicht gleich Solar. Während sich eine Photovoltaikanlage oft schon für den einzelnen Haushalt lohne, sei die Wirtschaftlichkeit von Solarthermie erst ab einer bestimmten Größe der Anlage gegeben, so Karsten Voss. Im Verbreitungsgrad beider Techniken spiegele sich dies jedoch nicht wider. Der Grund dafür sei die Bürokratie: Der Einbau einer Solarthermieanlage sei völlig unbürokratisch, hingegen werde jeder Einfamilienhausbesitzer mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach zum Kleinunternehmer mit allen damit verbundenen Konsequenzen.

Kreislaufwirtschaft vom Schuh bis zum Wohnquartier

Doch nachhaltiges Bauen bedeute mehr als nur Energieeffizienz und den Einsatz regenerativer Energie. Erick Wuestman, der aus den Niederlanden per Video zugeschaltet war und als Berater Kreislaufwirtschaft bei KplusV tätig ist, machte deutlich, wie wichtig Recycling in allen Wirtschaftsbereichen vom banalen Schuh bis zur Wohnsiedlung ist. Natürlich sei das Thema Kreislaufwirtschaft auch hierzulande nicht völlig neu, jedoch gebe es viel Luft nach oben. Entscheidend für nachhaltiges Bauen sei der Dreiklang aus Effizienz, d. h. der ergiebigsten Nutzung einer Ressource, Suffizienz, was auch persönlichen Verzicht und Einschränkungen einschließe, und Konsistenz, die Nutzung naturverträglicher und ressourcenschonender Technologien. Dabei müsse man sich auch fragen, ob es Grenzen der Kreislaufwirtschaft gebe, insbesondere im Hinblick auf technische und energetische Anlagen. Demnach sei es laut Karsten Voss leicht möglich, eine Solarthermieanlage in ihre Einzelteile zu zerlegen. Bei einer PV-Anlage sei dies schon deutlich komplizierter. Zwar gebe es Ansätze, jedoch sei ein Durchbruch erst dann zu erwarten, wenn es für das Recycling von PV-Anlagen auch einen Markt gebe. Solange die Anlagen der ersten Generation noch auf den Dächern arbeiteten, müsse man abwarten. Gleiches gelte für viele Wärmedämmverbundsysteme. Auch hier gebe es schlicht noch keinen Markt für ein Recycling dieser Baustoffe, wie Benjamin Krick ergänzt. Vor dem Hintergrund, dass der Bausektor hierzulande mehr als die Hälfte des Abfalls produziere, sei die Einführung einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft zwingend, so Dirk Mobers. Ein Ansatz sei es, die Kosten für das Recycling einzupreisen, damit Hersteller und Anbieter endlich aktiv würden.

Über finanzielle Anreize will Benjamin Krick die Menschen dazu bewegen, Baustoffe wiederzuverwenden. Dämme man das Dach eines Bestandshauses, würden oft auch die Dachziegel erneuert, obwohl die alten wahrscheinlich noch für Jahrzehnte ihren Dienst täten. Hier müssten die Förderbedingungen so angepasst werden, dass es nicht mehr wirtschaftlich sei, intakte Baustoffe zu entsorgen.

Die Bestandsbauten machen den Unterschied

Ob es der Bauwirtschaft gelingt, den notwendigen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, entscheide sich im Bestand, nicht beim Neubau. Darin waren sich alle Diskutanten einig. Die Sanierung sei das entscheidende Thema, so Dirk Mobers, hier sei der Energieverbrauch am höchsten, hier werde kaum gedämmt und selten kämen regenerative Energien zum Einsatz. Gleichzeitig dürfe man das Thema nicht allein auf dem Rücken der Mieter austragen, so Dirk Mobers, und man müsse genau überlegen, in welcher Lebensphase man die Menschen für eine Sanierung gewinnen könne. Eine Sanierung sei für die Menschen eben fast immer unangenehm, bestätigte Karsten Voss. Man dürfe deshalb nicht auf den einzelnen Haushalt schauen, sondern müsse ganze Quartiere in den Blick nehmen. Wenn es hier gelänge, die Energieversorgung für viele Haushalte auf einen Schlag auf eine nachhaltige Grundlage zu stellen, habe dies einen weitaus größeren Effekt. Benjamin Krick hinterfragt, ob es für solch große Lösungen, wenn sie flächendeckend angestrebt würden, überhaupt genug erneuerbare Energie auf dem Markt gebe. Deshalb werde die Sanierung des Bestandes seiner Meinung nach ohne eine gesetzliche Lösung, sprich eine Novelle des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) nicht gelingen. Während für Dirk Mobers auch hier smarte, digitale Angebote ein Baustein zur Lösung des Problems sind, bezweifelt Karsten Voss, ob jeder seinen Energieverbrauch über eine App steuern wolle. Viele Menschen erreiche man mit dieser Technik gar nicht. Vielleicht wäre es im Gegenteil zielführender, die Themen Energie und Wärme zu professionalisieren und der Entscheidungsgewalt des Einzelnen zu entziehen. Auch Benjamin Krick sieht in der Digitalisierung nicht den entscheiden Faktor. So funktioniere die Strohdämmplatte auch ohne Strom und das sei kein unwesentlicher Einwand. Wer einmal in der Bahn mit Fahrkarten-App, aber leerem Akku gesessen habe, kann ermessen, was ein Smart-Home ohne Strom bedeute, so Krick.

Im Hinblick auf die Klimaneutralität des Bausektors geht die Ingenieurtechnik voran, manchmal mit Hochtechnologie, zu weilen mit ganz einfachen, aber resilienten Lösungen. Doch die Zukunft des Bauens wird nur klimaneutral werden, wenn alle Beteiligten bei der Sanierung des Bestandes an einem Strang ziehen.

Was Ingenieurtechnik und nachhaltige Baukunst vermögen, konnten die Besucher der Ingenieurimpulse anhand der ausgestellten Modelle zum Solar Decathlon in Wuppertal bewundern. In Originalgröße wird man diese Bauten dann bei diesem internationalen Hochschulwettbewerb für nachhaltiges Bauen und Wohnen vom 10. bis 26. Juni 2022 in Wuppertal betrachten und begehen können. Projektleiter Dr. Dipl.-Kfm. Daniel Lorberg lud alle Teilnehmer der Impulse deshalb ein, spätestens im nächsten Sommer nach Wuppertal zurückzukehren.

Auch die Ingenieurimpulse wird es im nächsten Jahr wieder geben. Doch verzichten muss die Ingenieurkammer-Bau dann auf ihren langjährigen Kooperationspartner: Die EnergieAgentur.NRW wird nach der Entscheidung der Landesregierung zum Ende des Jahres aufgelöst. Christoph Spieker, Hauptgeschäftsführer der IK-Bau NRW, dankte dem anwesenden Impulse-Team der Agentur daher im Beisein von Kammer-Vizepräsident Dipl.-Ing. Michael Püthe ausdrücklich und herzlich für die langjährige, sehr erfolgreiche Zusammenarbeit. Als Abschiedsgeschenk gab es ein Geschenk aus der neuen Bling.Bling.-Kollektion der IK-Bau NRW, das mit dem Slogan DO YOUR ING. ermuntert, als Ingenieurin und Ingenieur auch weiter mutig voranzugehen und die Herausforderung des Klimawandels anzunehmen.